
Jeep die Dritte. Auf 2.200 Meter Höhe liegt Europas höchstes, ganzjährig bewohntes Dorf, etwa sechs Monate im Jahr vom Schnee zugemauert und – wenn nötig – autark von der Außenwelt: Ushguli. Etwa vierzig Kilometer geht´s den Berg hinauf auf (was haben wir über die Anfahrten zu touristisch interessanten Punkten gelernt?) furchtbaren Straßen. Wir versuchen es erst gar nicht, denn Archil (Mirons Sohn) organisiert uns „friend with jeep“. Ausgemacht war: „ friend with jeep“ kommt um zehn, bringt uns nach Ushguli, wartet, trinkt Kaffee und bringt uns wieder runter. Jürgen und ich entdecken am Vorabend: hoppla, ein Tag ist viel zu wenig! Dort gibt´s jede Menge zu entdecken! Wir bleiben drei Tage! Wird sich schon machen lassen! Also: Zimmer räumen, frühstücken, Rucksäcke packen und (inzwischen ist es 9.45) Archil aus den Bett klingeln und von den neuen Plänen in Kenntnis setzen. Bis er auf der Bildfläche erscheint ist auch sein Kumpel vor Ort. Freundlich, aber offensichtlich sehr schüchtern. Er weiß nicht, wie er uns auf der anderthalb-stündigen Fahrt unterhalten soll, so ganz ohne gemeinsame Sprachkenntnisse, also packt Archil flugs sein Täschchen und kommt mit. Alles nicht nötig, wir sind völlig zufrieden, doch mit solcherlei Beteuerungen kommt man bei Georgiern nicht weit, so viel wissen wir inzwischen. Sie geben alles und mehr und das mit ganzem Herzen! Jürgen drückt Miron zum Abschied die Hand: „Starkes Mann!“ sagt Miron anerkennend und stellt in Aussicht, Jürgen in zwei Tagen, wenn wir zurück sind, beim Armdrücken zu schlagen. Miron ist übrigens 77! Archil setzt noch schnell zehn Lari auf seinen Vater, dann geht´s los. Entlang des Enguri (manchmal auch Inguri – bei der Schreibweise gibt´s offensichtlich regionale Unterschiede) geht´s den Berg hinauf. Tief frisst sich der Fluss in den Fels und bildet eine enge Schlucht. Mit seinem milchig-grauen Wasser ganz klar ein Gletscherbach. Der Straße ist zuerst nur staubig, dann steil, dann mehren sich Schlaglöcher und ausgewaschene Rinnen, schließlich geht´s durch´s Wasser. Wir beglückwünschen uns dazu, den Camper in Mirons Obhut gelassen zu haben und haben nun auch genug Zeit für ein (teilweise ziemlich zerrütteltes) Schwätzchen. Archil warnt uns vor Bären und es dauert ein paar Momente, bis er verstanden hat, dass wir bei Temperaturen von um die 0 Grad in der Nacht nicht mit einem Zelt in den Wäldern übernachten werden, woraufhin er uns einige ihm bekannte Schlafgelegenheiten irgendwo, aber nicht in Ushguli vorschlägt. Irgendwann sind alle (bis auf den sprachunkundigen Jeep-Kumpel) auf demselben Informationsstand und können zu anderen Themen übergehen. Archil hat nach hinten gewandt einiges zu erzählen, wobei es ihn bei jedem von ihm nicht erwarteten Schlagloch an die Decke katapultiert, woraufhin sein Kumpel dann doch plötzlich etwas englisch kann: „Sorry!“ Im Enguri-Tal kann man wohl tatsächlich Gold finden, was Archil auch schon gelungen ist. Auf die Frage hin, ob er es verkauft habe, macht er allerdings große Augen: „Nooo, it´s illegal!“ Auch einige von ihm gefundene alte Schmuckstücke mit Familiensignaturen und Waffenschmuck kann er uns auf seinem Handy zeigen. Wir erzählen ihm von unserem Hobby (Paddeln) woraufhin wir dann an jeder interessanten Stelle der Schlucht anhalten und fotografieren dürfen. Nach einigen weiteren „Sorrys & Boings“ kommen wir dann auch endlich in Ushguri an. Gästehäuser gibt´s einige, Archil will unbedingt den besten Preis aushandeln. Auch das wäre nicht nötig, er ist trotzdem nicht zu bremsen, die Zimmerwirtin und ich werfen uns einen geduldig-resignierten Blick hinter seinem Rücken zu – Deal! Wir bleiben, während unsere beiden neuen Freunde dann nach einigem Verabschieden wieder zu Tal rumpeln, nicht ohne ein letztes: „If there is problem, you call me!“

Wir callen erstmal nicht, sondern sind sprachlos. Ushguli besteht aus vier kleinen Ortschaften – vier Ansammlungen von Gebäuden, die sich malerisch in der Berglandschaft verteilen. Hervorstechend sind die charakteristischen Wehrtürme, von denen gestern schon die Rede war: nicht nur gegen Lawinen und Feinde von außerhalb hatte jede Familie einen oder mehrere davon, sehr üblich waren wohl tatsächlich erbitterte Blutsfehden zwischen den einzelnen Clans, die einen Rückzug in die Türme nötig machten. Das meistverwendete Baumaterial sind aufeinandergestapelte Schieferplatten, hauptsächlich bei Grundstücksmauern und kleineren Gebäuden. Die Türme dagegen sind aus massiven Steinblöcken errichtet. Und auch hier: mehr Tier als Mensch unterwegs. Kühe und Schweine passen sich völlig selbstverständlich in das dörfliche Treiben ein und man hat eigentlich immer einen bis mehrere (stets sehr freundliche) Hunde als Begleitung. In einer ehemaligen Matschubi befindet sich ein kleines, aber sehr interessantes Museum. Matschubis sind gemauerte Steinhäuser, in denen Menschen mit Tieren zusammen in einem Raum lebten, um deren Wärme für sich zu nutzen. Nur Schweine durften wegen ihres unschönen Geruchs nicht mit ins Haus sondern wurden im Herbst geschlachtet. Ein junger Mann aus dem Dorf erklärt uns die verschiedenen Gegenstände, unter anderem verzierte Eichenstühle für Familienoberhaupt, Frauen oder den Tamada. Auch ein Tamada-Trinkhorn gibt´s zu bewundern. Der Großvater unseres Führers hat bis in die 1930er Jahre in diesem Matschubi gelebt. Wieder draußen zeigt er uns noch die Gundsteine des ehemaligen Familien-Wehrturms, den es inzwischen aber nicht mehr gibt. So geht´s übrigens einigen dieser Türme, einst müssen noch viel mehr davon hier herumgestanden haben, wurden jedoch zerstört und deren Steine von den Einwohnern in ihre Häuser recycelt. An der nächsten Ecke tollen einige gescheckte Ferkelchen auf der Gasse herum und dort treffen wieder auf Schwaben! Zwei Mädels aus Stuttgart: innerhalb von vier Tagen stiegen sie mit drei weiteren Begleitern von Mestia nach Ushguli und wollen nach zwei Erholungstagen den Pass nach Lentechi überquereren, das nächste Dorf Richtung Süden. Ein sportliches Unternehmen mit etwa zehn Stunden Gehzeit. Danach stehen Armenien und der Iran auf dem Programm - Regionen, in denen sich Langzeit-Urlauber und Aussteiger aus Deutschland im Winter gerne aufhalten, wie wir inzwischen wissen. Kurz darauf finden wir uns in einem kleinen Garten-Cafe bei regem Austausch über unsere bisherigen Reise-Erfahrungen wieder. Noch mehr Leute, die mehr als nur einen Jahresurlaub ins Reisen stecken. Wir erfahren außerdem, dass abends in einem „Cinema“ im Ort ein Film gezeigt wird, der in diesem Dorf mit (unter anderem) ortsansässigen Laienschauspielern gedreht wurde und ein historisches Drama zeigt. Wir verabreden uns für den Abend im „Cinema“.

Vorher gibt´s in unserem Gästehaus noch Dinner und ich kann sehr positiv feststellen, dass wir die „Pizza und Pasta-Mafia“ weit hinter uns gelassen haben! Damit meine ich, dass es uns auf unserer Reise bisher überraschenderweise nicht immer leichtfiel, landestypische, traditionelle Gerichte zu bekommen. Ein Bulgare erklärte es uns mit „modern times“. Pizza und Pasta ist unaufwändiger und wird von den Touris klaglos bestellt und gegessen. Mich begeistert diese Entwicklung nicht, die umso mehr zu spüren ist, je länger ein Land schon touristisch erschlossen ist. Hier wird aber noch traditionell georgisch von der Frau des Hauses gekocht – zusätzlich gilt das Motto: gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Keine Speisekarte, sondern was es eben heute gibt. In diesem Fall: zuerst georgischer Käse mit würzigem Gemüse, Brot und Salat, Eintopf, danach Bohnen und die köstlichen Kubdari – ihr wisst ja noch: die mit Fleisch gefüllten Teigfladen. Werde mich mal um ein Rezept kümmern, fürchte aber, dass auch das Backen im Holzofen dazu beiträgt, dass sie so unfassbar gut schmecken! Mit in unserem Gästehaus ein polnisches Paar, das auch Lust auf lokale Filmkost hat. Unterwegs erfahren wir, dass sie (die Polin) Geburtstag hat und (dank Ania) kann ich ihr auch gleich ein polnisches Ständchen singen und sie freut sich sehr! Das Ushguri-Kino befindet sich in einem schiefer-gemauerten Haus, ansteigende Sitzreihen mit Polstern wurden darin installiert mit Platz für etwa zwölf Personen. Mit uns, den fünf deutschen Wanderern, den beiden Polen und einer Japanerin ist es also nahezu voll. Die Einheimischen kennen den Film wohl schon! Er ist tatsächlich ziemlich dramatisch und zeigt die Zwänge, die vor fünfzig bis hundert Jahren in solch einem abgeschiedenen Dorf herrschten, das seine Regeln unabhängig von der Außenwelt selbst bestimmte. Die erwähnten Familienfehden und die Tradition, Hochzeiten zu arrangieren sind das Hauptthema. Spannend für uns Zuschauer, die von uns am Tag besuchten Orte im Film in „Aktion“ zu sehen. Unter den Laienschauspielern glauben wir einen älteren Mann und ein Kind am Tag im Dorf gesehen zu haben. Die bewussten Kubdari und Chatchapuri gehörten übrigens auch zu den Hauptdarstellern und scheinen bei jeder Mahlzeit unentbehrlich zu sein. Was uns nun mit großer Spannung auf das morgige Abendessen warten lässt, denn unsere Zimmerwirtin hatte uns mit dem Versprechen zum Film entlassen, jeden Tag etwas anderes zu kochen… ( …am nächsten Morgen lesen wir nochmal Hintergrundinfos zum Film: er spielt im Jahre 1992 – unfassbar!)
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