Morgens auf dem kleinen Stadt-Campingplatz in Budapest: alles wir gehabt. Der Himmel grau, leichter Nieselregen. Die Hauptstadt werden wir wohl nicht mehr mit Sonnenschein erleben. Jürgen muss ein wenig Büroarbeit machen und so schnüre ich meine Laufschuhe: Budapest muss doch auch sportlich zu erobern sein! Einmal geradeaus Richtung Donau, nach rechts flussaufwärts, nochmal über die grandiose Freiheitsbrücke, auf der Buda-Seite flussabwärts, rüber über eine (zumindest für mich) namen- und eher schmucklose Brücke und wieder bolzgerade zurück zum Campingplatz. Orientierungstechnisch habe ich es mir einfach gemacht. Joggen mit herrlichem Sightseeing: da stört auch der Nieselregen nicht. Jürgen hat inzwischen neben dem Bürojob Waschmaschine und Trockner am Platz frequentiert (manchmal muss halt auch Haushalt sein) und nach dem Frühstück satteln wir den Camper und düsen los nach Norden: der Bükk-Nationalpark will von uns besichtigt werden. Er ist der nördlichste Nationalpark Ungarns, außerdem das höchste Karstgebiet und das größte zusammenhängende Waldgebiet. Er hat mehrere Gipfel mit einer Höhe von über 900 Meter, was tatsächlich für Ungarn eher hoch ist. Der höchste Berg, der Kekes, misst ganze 1014 Meter, liegt aber nicht mehr in diesem Nationalpark.
Vorerst besichtigen wir aber zuerst einmal unseren neuen Campingplatz. Oder eher: Schlafplatz, wir arbeiten ja nun in neuen Kategorien. Bedeutet: Waldgebiet rund um unsere Wiese, etwas weiter unten rauscht ein Bächlein, Vogelgezwitscher und Lagerfeuer darf auch gemacht werden. Das kommt uns nur recht, denn bei unserer Ankunft zeigt das Thermometer neun Grad, Tendenz sinkend. Kein Wunder, wir befinden uns ja in den Höhenlagen! Außer uns wird das Areal von genau zwei weiteren Gästen bewohnt: Lena und Lisa heißen sie und sind mit Zelt, Rucksack und trotz des ungemütlichen Wetters erstaunlich guter Laune unterwegs. Gemeinsam ist das Feuer schnell entfacht und während es allen langsam wärmer wird, erfahren wir, dass die beiden Freundinnen und Kolleginnen sind, dass Lena eigentlich eine Solo-Wanderreise durch den Balkan geplant hat, aber im letzten Moment doch Zweifel bekam, ob eine Tour so ganz alleine das Richtige für sie wäre. So startete sie zwar nun mit einer Wanderwoche in Ungarn (bei der Lisa sie begleitete), um anschließend ein paar Wochen lang für Kost und Logie bei einer Bauernfamilie unterzukommen und mitzuarbeiten. Danach möchte sie mit Rad und Freund durch die baltischen Staaten und Skandinavien tingeln. Und dann soll´s nach Neuseeland gehen. Wie lange das alles, will ich wissen. „Ich habe gekündigt“, meint Lena. Und so lange unterwegs genug Geld verdient werden kann und sie weiterhin Lust auf Reisen habe, werde sie wohl noch auf Tour sein. Somit haben wir nun also die erste Langzeitreisende unseres Trips getroffen.
Am nächsten Tag trennen sich die Trüppchen wieder: Lena und Lisa machen sich auf den Weg zur Bushaltestelle und Richtung Budapest, Jürgen und ich erkunden die Bergwelt des Bükk-Nationalparks. Der Name leitet sich übrigens vom Wort Buche her, die hier die überwiegende Baumart darstellen. Wir können uns gleich von der Richtigkeit dieser Aussage überzeugen, Eichen und Ahorn gibt es daneben auch noch zu besichtigen. Und wieder ist alles um uns herum grün: das frische Laub über unseren Köpfen, ein zarter Grasteppich zwischen den Baumstämmen und das Licht, das durch die Blätter sickert. Helles Licht übrigens, denn endlich ist auch die Sonne wieder aufgetaucht! Es geht bergauf, teilweise liegen umgestürzte Baumriesen kreuz und quer und verleihen dem Wald etwas Wildes und Magisches. Und plötzlich lichten sich die Bäume: wir haben den Aussichtspunkt in über 900 Meter Höhe erreicht und der Blick in die Umgebung ist grandios! Bis zum Horizont bewaldete Hügel, einer hinter dem anderen. Wie in einer Spielzeuglandschaft blitzen stellenweise die gewundenen Sträßchen zwischen dem endlosen Grün hervor, hin und wieder flitzt ein Auto in der Tiefe vorbei. Wir wollen noch ein paar andere Perspektiven einfangen, das heißt, die Drohne bekommt mal wieder Auslauf. Oder besser: Ausflug.
Später führt der Wanderweg am unbewaldeten Grat weiter und so wird der Aussichtspunkt zur Aussichtsstrecke. Hier sind die Wiesen besonders bunt: Feldstiefmütterchen, Walderdbeeren, Schlüsselblumen, rosa Anemonen, alles ist kräftig am Blühen!
Nach insgesamt sechzehn Kilometern knurrt dann aber doch der Magen und wir freuen uns, dass das winzige Örtchen Repashuta, in dem sich unser Camping-, nein, Schlafplatz befindet tatsächlich über ein Restaurant verfügt. Allerdings muss das Essen vor 19.00 Uhr bestellt sein, darauf hat uns Janos, der Schlafplatz-Besitzer extra hingewiesen. Dann schließt die Küche! Und mit qualmenden Socken (denn um dieses Ziel zu erreichen mussten wir am Ende ziemlich Gas geben) laufen wir gerade noch rechtzeitig im Lokal ein. Hier wird standesgemäß Wild serviert und so futtern wir uns verdient durch die Karte. Und wie endet der Tag? Natürlich wieder mit Lagerfeuer, denn sobald die Sonne verschwindet, ziehen wieder die hochalpinen Temperaturen ein.
Auch am nächsten Tag ist das Wetter noch kaputt, denn die ungewöhnliche gelbe Scheibe taucht wieder am Himmel auf. Zwar ist im Wind deutlich zu spüren, dass wir uns in Höhenlagen und noch mitten im Frühling befinden, aber mit Mütze auf dem Kopf frühstückt es sich herrlich mitten im grasgrünen Bükk-Nationalpark. Wir wollen mehr davon sehen und peilen heute zwei etwas touristischere Stationen an. Gehört auch zur Landeskultur und, wie wir wissen, gibt es (fast) immer Gründe, warum bestimmte Orte von Menschen besucht und geliebt werden. Unser Ziel heißt Szalajka-Tal. Hier kann man auf gut ausgebauten Wegen gleich mehrere Attraktionen abklappern: die Szikla-Quelle, die eiskalt aus einem Spalt im Fels herausbricht und sich flirrend mit den wärmeren Wassermassen des Sees mischt. Den zweitgrößten Wasserfall Ungarns mit 17 Metern Höhe (Ungarn ist ein flaches Land, wie ja alle inzwischen wissen), der, gespeist von Karstquellen, über 18 Karststeinterrassen zu Tal stürzt. Und die Istallos-köi-Höhle, die nach einem steilen Anstieg weit über den Wasserläufen in den bewaldeten Berghängen entdeckt werden kann und die in ihrer Tiefe recht beeindruckend ist. Nach dieser Kraxelei müssen natürlich verbrauchte Kalorien wieder zugeführt werden. Und das geht am besten mit einer (oder zwei) der berühmten Bachforellen. Diese sind wohl schon seit langer Zeit wild im Szalajka-Bach angesiedelt. Um sie zu vermehren wurde das Bachbett an mehreren Stellen aufgestaut und künstliche Brutstätten angelegt. Seit etwa hundert Jahren werden im Tal Forellen gezüchtet. Und die kann man an einem Ständchen am Bachlauf, in geräucherter Form auch gleich verspeisen, was wir uns nicht zweimal sagen lassen! Wir erstehen noch zwei vakuumierte Exemplare für die nächsten Tage und fühlen uns bestens gerüstet für weitere Abenteuer.
Auf dem Heimweg legen wir einen kurzen Stopp im Örtchen Lillafüred ein, das für den höchsten Wasserfall Ungarns mit knapp zwanzig Meter Höhe bekannt ist. Man sieht: wir sind immer noch auf der Jagd nach den Wasserfällen. Allerdings, erfahren wir, handelt es sich bei diesem Wasserfall nicht um ein natürliches Phänomen. Ursprünglich plätscherte hier ein Bächlein, das sich aus der Szinva-Quelle speiste und, je nach Menge des Wassers, das die Karsthöhlen freigaben, mal mehr, mal weniger rauschend über etliche Steinstufen zu Tale floss. Als in den1930er-Jahren nahe dieser Stelle das feudale Schlosshotel errichtet wurde, beschloss man, eine neue Attraktion zu kreieren, fasste das Bächlein in einen kleinen, gemauerten Kanal und ließ es, just neben dem Hotel über eine Kante nahezu 20 Meter in die Tiefe stürzen. Um den Besuchern dieses Schauspiel rund ums Jahr bieten zu können wurde vor mehr als einem Jahrzehnt eine Pumpe im nahegelegenen Hamori-See installiert, die den Fall im Bedarfsfall zusätzlich auffüllt. Wir staunen! Hübsch anzuschauen ist die Stätte auf jeden Fall, wenn auch nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Über einen (sicher nicht offiziellen Trampelpfad) kann man sogar hinter den Wasserfall gelangen und ihn so von allen Seiten erleben!
Zurück am Schlafplatz in Repashuta hat sich unsere einsame Wiese in einen niederländischen Campingplatz verwandelt. Ein Wohnmobil und ein Zelt haben sich inzwischen angesiedelt, befüllt mit jeweils einem älteren Paar aus dem nördlichen Flachland, die vielleicht auch einmal in die schwindelerregenden Höhen des ungarischen Hügellands vordringen wollten. Am Lagerfeuer (abends immer noch kalt) finden wir uns alle zusammen und erfahren, dass eins der Paare Hab und Gut verkauft hat, seit letztem August mit dem Wohnmobil durch Südeuropa tourt und nun den Osten anpeilt. Sie wirken ein wenig verunsichert, ob der Gefahren durch die Bewohner dieser Landstriche. Anscheinend wurden ihnen wilde Geschichten erzählt. Laut unseren Erfahrungen trifft wenig davon zu, können wir die beiden beruhigen. Ein wenig gesunden Menschenverstand und die üblichen Vorsichtsmaßnahmen in größeren Städten vorausgesetzt. Der Abend wird lang und gemütlich am knisternden Feuer und wir haben für unsere Sammlung eine weitere Einheit Langzeitreisende eingetütet.
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