On the road bei 47 Grad? Es gibt Schöneres, aber nun kommt zumindest auch mal unsere Klimaanlage zum Einsatz. Und ehrlicherweise muss auch gesagt werden, dass wir nicht durchgehend 47 verzeichnen. Trotzdem veranlassen die Temperaturen dazu, unseren Reiseplan noch einmal zu überdenken. Ja, wir befinden uns im Raum Malatya auf einer Hochfläche mit knapp tausend Metern. Aber Sommer in der Türkei hat eben doch Anderes auf Lager als die Schwäbische Alb. Und spätestens, als wir Elbistan durchqueren (hier finden nun die versprochenen 47 heißen und staubigen Grade statt) fällt eine Entscheidung: es geht in den Norden! Zuerst den der Türkei und anschließend werden wir das nördliche Georgien anpeilen. Die türkischen Ost- und Südränder genießen wir dann im Herbst! Nahe Malatya hat Park4Night einen Schlafplatz am Sultansuyu Baraji ausgespuckt („Sultans Wasserbauwerk“ übersetzt eine wohl türkischkundige deutsche Bekannte verwundert, aber ja, ist ein Stausee, passt!) und trotz der immer noch herrschenden 39 Grad am Abend entpuppt sich dieser als deutlich ruhiger und netter als es zuerst den Anschein hatte.
Wir machen also am nächsten Tag einen kurzen Stopp in Malatya, denn hier handelt es sich um „den Aprikosengarten der Türkei“, wie wir lernen. Eine überraschende Frostwelle machte allerdings in diesem Frühjahr einen Großteil der Ernte zunichte erfahren wir. Trotzdem gibt es überall Aprikosen zu kaufen: frisch und getrocknet, geschwefelt und ungeschwefelt und dazu noch eine reiche Auswahl (obligatorisch sehr zuckerhaltiger und ganz schön leckerer) Süßigkeiten. Probiert werden darf auch alles, was die Auswahl nicht unbedingt einfacher macht. Eine große Tüte mit allem findet im (nur beinahe überladenen) Camper Platz.
Neben den Aprikosen fällt uns jedoch noch etwas Anderes, weniger Erfreuliches auf. In den kleinen Dörfern rundherum und auch in Malatya selbst fallen halb zerfallene Häuser und gleichzeitig vorhandene Zelte und Container oft von der Hilfsorganisation ADRA auf. Ein Erdbeben? Wir lesen nach und richtig: im Februar 2023 fand im Kreis Nurhak ein Beben der Stärke 7,8 statt und hinterließ furchtbare Verwüstung. Auch ein Teil der Innenstadt von Malatya liegt noch in Schutt und Asche, wie wir beobachten können. Was wir noch sehen? Außerhalb der Ortschaften, im absoluten Nirgendwo eine Neubausiedlung nach der anderen, völlig gleichförmig konstruiert, ein Haus wie das andere. Dutzende, hunderte Häuser an einem Fleck! Und augenscheinlich alles unbewohnt. Neuzeitliche Geisterstädte! Wie vermuten richtig, hier hat die Regierung, insbesondere das Ministerium für Stadtentwicklung ein Geldgrab der besonderen Art geschaffen. Die vom Beben betroffenen Bürger sollten alle in diese neuen Siedlungen umquartiert werden, was augenscheinlich nicht funktioniert hat, denn die provisorischen Zelte in den kleinen Örtchen sind immer noch bewohnt. In ihre halb zerfallenen Häuser trauen sich viele Bewohner nicht zurück. Die Neubauten wurden aber aus verschiedenen Gründen bisher kaum bezogen. Gründe? Die bürokratischen Prozesse laufen langsam, es wurde viel mehr gebaut, als gebraucht wird, oft fehlen noch verschiedenen Anschlüsse und (hier vermute ich den Hauptgrund) die Bewohner möchten ihr Dorf nicht verlassen, um in die sterilen Siedlungen ohne jede Infrastruktur zu ziehen. Und wenn ich beobachte, wie sich das soziale Leben in den kleinen Örtchen auf der Straße, im Cafe, vor den Lädchen und vor den Haustüren abspielt, kann ich das mehr als gut verstehen!
Vollgepackt mit Aprikosen & Co gondeln wir zuerst nach Osten, überqueren mit der Fähre den Keban-Stausee, den zweitgrößten Stausee der Türkei mit der mittelalterlichen Festung Pertek auf einer Insel. Die natürlich nicht immer eine Insel war, denn vor der Flutung des Tals befand sich hier ein Städtchen dessen oberster Gipfel jene Burg war. Spannend wird´s erst bei der Ausfahrt: alle drei Reihen wollen gleichzeitig los, einer davon am liebsten rückwärts, aber zuerst. Trotzdem kein Problem, ohne Blechschäden kommen alle wieder am Ufer an.
Weiter geht´s nach Norden am Ort Tunceli vorbei. Hier finden wir inmitten von Gebirgszügen, Wasserfällen und wilder Natur eine touristisch wenig erschlossene Region. Über 3300 Meter ragen Bergwände in die Höhe, der türkisblaue Munzur schlängelt sich durchs Tal. Ein absoluter Traum! Auch für Paddler, denn langsam wird es Zeit, die Boote mal wieder vom Dach zu holen. Ein Rafting-Camp gibt es zwar, die Rezensionen überzeugen uns aber nicht wirklich. Und da die Abschnitte des Munzur zwar schon vor Urzeiten (nämlich im Jahre 2009) das letzte Mal von Christoph Scheuermann beschrieben wurden, die Schwierigkeiten überschaubar sind und alles von der Straße aus begutachtet werden kann, fällt uns die Entscheidung nicht schwer, ein paar Tage hier abzusatteln. Zumal sich, am Wegesrand durch ein Holzschild gekennzeichnet, ein unglaublich charmanter kleiner Campingplatz direkt am Flussufer befindet.
Zeze-Camping wird das hübsche Stückchen Erde genannt, die Besitzer bieten neben Stellplätzen, wo immer wir wollen auch mietbare Zelte an. Die schon reichlich bewohnt sind. Etliche kurdische Familien haben sich hier niedergelassen, es wird gegrillt und der obligatorische Cai in grandiosen, mit Holz befeuerbaren Teekesseln gekocht. Und natürlich bekommen wir gleich einen angeboten. Hier sind wir bestens aufgehoben, zumal die Temperaturen sich deutlich normalisieren. Die Dreißig-Grad-Marke wird selten geknackt! Jürgens Home-Office-Tag steht also nichts im Wege, während ich am nächsten Morgen gleich am kurdischen Frühstück teilnehmen darf.
Und überhaupt: einige der Urlauber vom Zeze-Camping werden diesen Blogeintrag lesen. Auch Vorfreude wurde geäußert, was wohl drinstehen mag. Darum kann ich an dieser Stelle einfach nochmal ein Loblied auf Eure und die Gastfreundschaft in der Türkei im Allgemeinen singen. Für Euch ist es normal, aber wir fühlen uns wirklich mehr als herzlich aufgenommen inmitten von Fragen nach unserem Befinden, ob wir etwas benötigen, all die Gläser Cai, die uns angeboten werden, das frische Brot vom Bäcker, die qualmenden Lagerfeuer und die traditionellen Sonnenblumenkerne. Und noch mehr: das große Interesse an uns, die unaufdringliche Neugier und die Bereitschaft, selbst zu erzählen! Überall, egal ob am Straßen- oder Flussrand oder hier, die Frage: „How do you found this place?“ Anscheinend ist diese Gegend noch abgelegener, als wir es uns vorgestellt haben. Genau so mögen wir es! Hier waren wir nicht das letzte Mal!
Zumal das Munzur-Gebiet paddeltechnisch so Einiges hergibt, aber einfach noch so gar nicht erschlossen ist. Hier gibt es keine Paddler! Das merken wir umso mehr, als wir am nächsten Tag den Abschnitt zwischen Güneykonak und Asagitorunoba in Angriff nehmen. Eigentlich mit einem fast durchgehenden Zweier-Level (und etwas drüber) inklusive Dreier-Kernstelle ein massentauglicher Fluss. Das türkische Leben allerdings spielt sich eher nicht IM, sondern AM Fluss ab. Und zwar überall! Es wird gepicknickt, wo auch nur irgendwo ein schattiges Plätzchen am Ufer zu finden ist. Und man kann es tatsächlich bestens nachvollziehen! Unsere bunten Kajaks sorgen für begeisternde Abwechslung, es wird gewunken und schon nach wenigen Kilometern mussten wir drei Picknick-Einladungen ausschlagen. Auf den Steinen kurz nach der Kernstelle sitzen zwei junge Männer, sichtlich beeindruckt und steigen extra ins Wasser, um an Jürgens Boot zu wackeln. Ja, es ist so instabil, wie es von außen aussah. Große Hochachtung schwappt uns entgegen. Auch von den Paddelkollegen aus der Heimat wird das türkisfarbene Wasser des Munzur mit Wohlwollen in Augenschein genommen. Und möglicherweise wird sich in mittlerer Zukunft eine Expeditionsausfahrt in dieses Gebiet lohnen…
Was muss man noch gesehen haben? Die Munzur-Quelle natürlich, denn diese befindet sich nur wenige Kilometer oberhalb vom Campingplatz. Ein heiliger Ort (Ziyaret) soll es sein, der mit vielen Legenden und Heiligenfiguren (insbesondere Munzur Baba) verbunden ist. Das Wasser wird als reinigend und heilend verehrt. Entsprechend viele Menschen reisen dazu an, inklusive ein Bus voller offensichtlich esoterisch angehauchter Damen in indischer Kleidung. An mehreren in den Felsnischen brennenden Feuern können Kerzen entzündet werden, die Opfergaben, Zeichen der Dankbarkeit oder einen Wunsch symbolisieren können. Es handelt sich übrigens nicht um eine einzelne Quelle, sondern um ein Quellgebiet. Überall sprudelt Wasser aus den Felsen und aus der Erde hervor und vereinigt sich auf diese Weise von Minute eins an zu einem beeindruckenden Strom.
Und weil dieser Strom, wie bereits erwähnt, hervorragend zum Paddeln geeignet ist, gibt es am nächsten Tag für die teilweise mutigen, teilweise zögerlichen, aber dann doch einverstandenen Campingplatzbewohner und den Besitzer einen kleinen Extra-Kurs auf dem Munzur. Inklusive diverser Kentereinlagen. Doch wer hat uns am meisten beeindruckt? Ein Zahnarzt, der mit zwei weiteren Zahnarztfreunden und Familien angereist ist, Deutsch via App lernt, um sich eines Tages den Traum erfüllen zu können, nach Deutschland zu kommen und dort zu arbeiten. Und der nach lediglich einem Jahr Übung mit einem Wortschatz aufwartet, der Vokabeln wie „Wanderbegeisterte“ beinhaltet!
Kommentar schreiben