Ein letzter gemütlicher Morgen auf Zezecamping, das wir nach vier Tagen sehr ins Herz geschlossen haben, inklusive seiner Gastgeber, dem mit Holz beheizten Öfchen am Flussufer, auf dem, wie beim Märchen „Der heiße Brei“ endloser Cay gekocht wird und natürlich dem „Dentist Club“. Das obligatorische Abschiedsbild, das natürlich nie fehlen darf wird in allen Varianten geknipst und die Zahnarztfamilien machen dabei vermutlich eine deutlich bessere Figur als wir. Denn wie es hier so üblich ist: für eine längere Autofahrt legt man die bequemen Camping-Klamotten ab und kleidet sich „leger-elegant“ wie Ramzi, unser deutschsprechender Freund nachdrücklich erklärt. Wie gesagt, er benutzt oft gewähltere Worte als wir. Und sieht in seinen hellen Hosen und der Brille heute tatsächlich aus wie ein Zahnarzt. Die äußere Erscheinung, seine höfliche Art und sein immenser Ehrgeiz könnten ihm bei seinem Projekt „Arbeiten in Deutschland“ tatsächlich zum Erfolg verhelfen. Zum Abschied hat er noch eine wichtige Warnung parat: wir sollen uns vor den Adlern in Acht nehmen! Sie greifen an! „Manchmal“, fügt er auf Jürgens skeptischen Blick hin noch zu. Hier geht er konform mit unseren Bekanntschaften vom Göksu River. „Picknicken am Tag ist gut. Aber abends muss man nach Hause gehen. Wegen der wilden Tiere.“ Ich frage nach, ob sie die (wirklich ziemlich wild gewordenen) Moskitos meinen. Nein! Die ECHTEN wilden Tiere sind gemeint! Anscheinend haben wir bisher Glück gehabt. Oder immerhin kein Pech!

Für sonstige aufkommende Gefahr hat unser Gastgeber Camal einen (anscheinend oft erprobten) Trick auf Lager: wir trinken mit ihm und seiner Frau Nurgül einen Abschieds-Cay am Flussufer. Über uns im Baum eine Holz-Plattform. Ein Baumhaus? fragen wir. Die Übersetzungs-App bringt die Erkenntnis: „Wenn Camal und ich kämpfen, versteckt er sich dort oben“. Gute Strategie, finde ich. „Tongue like a serpent“, textet Camal. Vielleicht ist das Ganze eine gute Strategie für eine haltbare Ehe, denn die beiden machen durchaus einen harmonischen Eindruck. Warum der Platz Zezecamping heißt, wollen wir noch wissen. Der Name leitet sich wohl von der Hauptfigur der Buches „Mein kleiner Orangenbaum“ von Jose Mauro de Vasconcelos her. Ich werde es lesen, verspreche ich Nurgül. Im Übrigen würden wir die Munzur-Region im Winter wohl kaum wiedererkennen: bis zu dreißig Minusgrade können hier herrschen und bis zu sechs Meter Schnee! Kaum zu glauben. Hiermit erklärt sich auch der Skilift und die diversen Übernachtungsgelegenheiten in der Gegend. Denn obwohl der Munzur, wie wir ja schon feststellten, ein traumhaftes Paddelgebiet ist: Kajakfahrer, die hier in der warmen Jahreszeit Quartier nehmen könnten, gibt es nicht. Die Bewohner der Türkei lieben ihre Plätze am Wasser, gerne steht man knietief zur Abkühlung in großen Gruppen im seichten Wasser (die mutigen gerne auch bis zur Brust), Schwimmkenntnisse sind dafür eher rudimentär.
Der wichtigste Wassersport, stellen wir bei unserer weiteren Fahrt fest, ist picknicken und grillen am Flussufer! Die letzten zwanzig Kilometer den Munzur hinunter und anschließend den Pülümür wieder hinauf, rund um die größere Stadt Tunceli, liegen die Täler unter einer Dunstglocke von Grillfeuerqualm. Die reichlich vorhandenen und wirklich entzückenden flachen Uferstellen unter schattigen Bäumen an beiden Flüssen sind lückenlos bevölkert: am liebsten direkt neben den Autos wird auf Picknickdecken und mitgebrachten Tischen alles aufgefahren, was gegrillt und gesnackt werden kann. Alt und Jung, Kind und Kegel: keiner bleibt zu Hause! Im seichten Wasser ist kaum eine Handbreit Platz, hier kühlt sich ganz Ostanatolien ab. Wer es auf alten, wackeligen Beinen nicht bis hinunter an den Fluss schafft, kann in diversen überdachten Picknickhäuschen direkt am Straßenrand die Aussicht aufs Wasser genießen. Doch bevor wir in diese Szenerie eintauchen begegnet uns am Straßenrand noch einmal ein nettes Abenteuer im Munzur. Eigentlich war ein weiterer Paddeltag in diesem Bach nicht eingeplant, doch tief unter uns tut sich plötzlich eine tiefe Schlucht mit blitzend türkisblauem Wasser auf! Und was ist einer der Vorteile an einer Reise, die mehr als sieben Monate dauert? Richtig: der Plan ist nur grob und soll es auch sein. Wir haben die Möglichkeit, jedes Abenteuer am Wegesrand, jeden entzückenden Schlafplatz, jede nette Begegnung, jeden Reisetipp so lange oder kurz zu genießen, wie wir nur wollen! Es gibt keinen Termin und keinen Grund, an einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein. Wir fahren den ein oder anderen Kringel? Gut so! Die besten Abenteuer entstehen spontan! Und so ist es auch hier! Die grandiose Schlucht muss gefahren werden. Wir besichtigen von oben (von unten ist nicht möglich) und entscheiden: geht! Übliches Spiel: Fahrrad an den Ausstieg, Boote und Insassen an den Einstieg und los geht´s! Tiefes, klares Wasser, spannende Wellenzüge, dicke Felsen, die zum Kehrwasserfahren einladen und die himmelhohen rötlichen Wände, gigantisch! Wir sind uns einig: wäre dieses Gebiet nicht so weit von zu Hause entfernt (3200 Kilometer!) wäre das ein ideales Paddelrevier mit Abschnitten jeden Schwierigkeitsgrades, grandioser Landschaft und einer Gastfreundschaft, die ihresgleichen sucht! Am Ende der Tour nochmal eine spannende Kombination aus großen Felsen und rasanten Durchfahrten – hurra, geschafft! Die eine, immerhin funktionierende Rolle an einer völlig überflüssigen Stelle (die darum natürlich nicht gefilmt wurde – viel zu langweilig!) blenden wir einfach mal aus!
Anschließend passieren wir die oben erwähnte, grillfeuergeschwängerte Region rund um Tunceli, um dann am Pülümür-Fluss (kann ein Name noch türkischer klingen?) unser Lager aufzuschlagen. Die wilden Tiere in Form von Kurzohreulen und wirklich großen Fledermäusen stellen sich alsbald ein, wir überleben die Invasion jedoch ohne Angriffe auf Leib und Leben. Einzig ein paar Moskitos geben ihr Bestes, uns Schaden zuzufügen.
Kleine Diskussion am nächsten Morgen: bei der Fahrt entlang des Pülümür beeindruckten mich besonders die himmelhohen, rötlichbraunen und sehr skurrilen Steinformationen, die die Wände der Pülümür-Schlucht bilden. Das Wasser in der Tiefe sah für meinen Eindruck ziemlich fahrbar und eher gemütlich aus. Eine entspannte Tour mit Landschaft vom Feinsten! Jürgen ist nicht so überzeugt – zu langweilig? Immerhin lässt er sich überreden, sich das Ganze noch einmal unter dem Aspekt einer möglichen Befahrung anzuschauen. So gondeln wir also hinunter und wieder hinauf. Die komplette Strecke ist sehr lang und weist viele augenscheinlich ziemlich seichte Stellen auf. Zwischendrin jedoch auch türkisfarbene, tiefe Abschnitte mit einigen Weißwasserpassagen, insgesamt aber doch eher beschaulich. Ein bis zwei Stellen müssten angeschaut und eventuell von mir umtragen werden. Kein Problem, Ufer ist überall vorhanden und an den meisten Stellen wäre sogar ein Ausstieg möglich. Wir gehen es also an! Und werden es nicht bereuen! Denn: der Pülümür kann zaubern! Was von oben nach gemütlichem Paddeln mit ein paar spritzigen Stellen wirkte, zeigt sich von innen plötzlich als komplett anderer Fluss! Wo sind die langen, ruhigen Abschnitte hingekommen, auf denen ich die roten Felswände bewundern wollte? Katarakt eins und zwei darf ich gleich mal umtragen (den zweiten fährt sogar Jürgen nur ab der unteren Hälfte), danach folgen Kurven in angespülten Wänden, Steinrutschen, Wellenzüge. Und noch ein Katarakt, den ich lieber auslasse. Immerhin kommt Jürgen hier voll auf seine Kosten. Und hat plötzlich überhaupt nichts mehr gegen den Pülümür einzuwenden. Auch ich komme auf meine Kosten! Das Wildwasser macht Spaß und die Aussicht ist noch schöner, als ich sie mir vorgestellt habe. Am Ufer eine Steinbockfamilie, der Chef mit beeindruckenden Hörnern auf dem Kopf! Auch von den Picknickplätzen aus ist die Aussicht anscheinend beeindruckend. Im unteren Teil der Strecke mehren sich die besagten Menschenansammlungen, die Protagonisten jubeln, winken, laden zum Mitpicknicken ein. Ein Kind kann sich über den Anblick der bunten Boote kaum beruhigen, drei Türken aus Deutschland auf Heimatbesuch (Frankfurt und Mannheim sind hier oft die Wohn- und Arbeitsorte) liefern auch gleich die Erklärung für das Staunen: „Ihr seid die ersten Paddler seit der Evolution!“ Und bieten sofort Bier und Schnaps an, was wir lieber ausschlagen. Denn an just dieser Stelle folgt eine (zumindest für mich) spannende Durchfahrt. Die Herren bieten an, mein Boot zu umtragen, Jürgen jedoch erklärt die Stelle für fahrbar. Was sie auch ist! Der Jubel vom Uferbereich aus ist mir gewiss! Am Ende der Strecke darf ich warten, während Jürgen sich per Rad auf den Weg zum Camper macht. Der Pülümür indessen fließt weiter in zum Murat-Fluss, anschließend in den biblischen Euphrat, um im Irak in den Persischen Golf zu münden. Damit es mir unterdessen nicht langweilig wird liefern sich drei jüngere Herren nach Rückkehr vom Flusspicknick auf dem Parkplatz eine Wasserschlacht mit den Inhalt aus ihren Trinkflaschen. Aber nicht lange, denn der vierte Herr stellt sie und ihr (anscheinend zu kindisches) Benehmen mit einem energischen Fingerzeig auf mich gewaltig in den Senkel. Woraufhin sie sich bedröppelt hinter ihr Auto verziehen. Wir aber steuern noch einmal unseren Schlafplatz am Pülümür-Fluss an, nutzen das reichlich vorhandene Wasser für eine kleine Putzaktion der treuen „13“ und bieten den Moskitos via Mückenspray Paroli!
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