Ein bisschen Nostalgie-Tour? Zumindest versuchen wir es mal, denn wie die meisten wissen, waren wir schon 2019 auf großer Tour. Na gut, auf mittelgroßer, denn zumindest verglichen mit unserer jetzigen Auszeit kommen mir die drei Monate von damals, obwohl gefüllt mit spannenden Abenteuern, recht überschaubar vor. Hier und jetzt kreuzt sich im Ort Macka einer der damals befahrenen Wege. Und obwohl wir gerade NICHT vorhaben, den Zauber von 2019 auf 2025 zu übertragen (hier soll sich der Zauber neu entfalten und tut es auch), das heißt, überhaupt nicht planen, bereits Bekanntes abzuklappern, wollen wir hier doch die Gelegenheit nutzen, mehr zu sehen, als vor sechs Jahren möglich war. Denn dem spektakulär an einer Bergwand klebenden griechisch-orthodoxen Kloster Sumela konnten wir bei bewusstem Besuch nur einen Blick von außen zuwerfen. Im Nachhinein sind wir nicht ganz sicher, ob das an der eher späten Stunde, der ausgelaufenen Saison oder einer vorhandenen Baustelle gelegen haben könnte. Oder an allen drei Gründen zusammen. Auf jeden Fall war das Tor damals geschlossen. Neuer Versuch also. Mit neuen Voraussetzungen: wir sind früher dran und befinden uns mitten in der Saison. Ob das ein Vorteil ist? Eher nicht, denn nach etlichen Tagen im anatolischen Nirgendwo befinden wir uns anscheinend plötzlich an einem touristisch interessanten Ort. Unsere Erinnerung vom Oktober 2019 passt nicht so richtig: damals konnten wir mit Offroad-Ralf, Offroad-Gaby und einem weiteren Paar völlig ungestört auf dem Besucherparkplatz übernachten. Keine Chance dazu im Juli 2025, denn auf bewussten Parkplatz kommt man nicht mal drauf, ohne einen saftigen Obulus zu bezahlen. Umgerechnet über siebzig Euro für Parken und Kloster?!? Kann man sich schon mal gönnen, wenn sich die Sache lohnt. In diesem Fall ist das Spektakulärste an der ganzen Geschichte der Blick von außen auf ein wie ein Schwalbennest am Fels klebenden Gebäudes. Was ich aber weiß: die ganz atemberaubende Sicht bekommt man auf Grund von allerlei Vegetation ohnehin nicht, den gibt´s nur via Drohnenbild im Internet. Und die Innenräume? Naja, man kann nicht behaupten, dass wir auf unserer Reise nicht schon das eine oder andere Kloster gesehen hätten. Also sind wir froh, dass der Inhalt des Geldbeutels ohnehin nicht für den Eintritt ausreicht, machen eine flotte Kehrtwende und erholen uns am Bächlein mit dem obligatorischen Cay von dem Schreck. Denn im Sommer findet man in der engen Schlucht mit dem rauschenden Bach und den steilen Felswänden alle paar hundert Meter eine größere oder kleinere Gelegenheit, die Seele ein bisschen baumeln zu lassen. Selbst jetzt in der Hauptsaison sorgt die pure Menge der Lokationen für eine gute Verteilung der Tourismus-Ströme. Sehr beliebt sind in jedem Fall die Hocker und Tischchen, die direkt ins gluckernde Wasser des Baches gestellt wurden: snacken und Füße kühlen in Einem ist DAS Ding überhaupt. In einem Metallkessel am Straßenrand werden Maiskolben gekocht, den Tee darf man sich ebenfalls gleich mit ins Wasser nehmen und so trauern wir dem gescheiterten Sumela-Besuch kein bisschen nach. Sondern wagen uns im Anschluss gleich zu ein paar Besorgungen nach Macka. Jürgen graust es ein wenig, denn am Vortag hatten wir das Durchgangsörtchen als voll, trubelig und chaotisch erlebt. „Markttag“, erklärte unser Campingplatzbesitzer. „Very chaotic!“ Und überhaupt kämen die meisten Leute ohnehin nicht zum Einkaufen aus den unzähligen kleinen Dörfchen nach Macka, sondern um sich zu treffen und den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen. Auch gerne mitten auf der Straße, wie wir beobachten konnte. Die durch die Blockade entstehende, laut hupende Autokolonne wurde nicht einmal zur Kenntnis genommen! Am heutigen Tag erleben wir „nur“ das normale Gewusel eines normalen türkischen Kleinstadt-Zentrums und so kommt auch Jürgen nicht in ernsthaften Stress. Nachdem seine Hauptmission (neues Autan besorgen) beendet ist, nimmt er den Vorschlag, sich bei einem Barber eine weitere Rasur zu gönnen, (wahrscheinlich ziemlich) erleichtert an. Ich erkunde derweil das Örtchen, erstehe ein paar Spezialitäten und pünktlich zum Schleppen der Obst- und Gemüsetüten ist der Mann dann auch wieder zur Stelle und sieht aus wie neu.
Wer erinnert sich noch an Hamsiköy 2019? Damals stellte sich die Frage, ob es wohl sinnvoll sei, wegen Milchreis die gerade Route an der Schwarzmeerküste entlang zu verlassen, um in den pontischen Gebirgszug hinaufzufahren. Wegen dieses Milchreises schon, wurde entschieden: schließlich genießt der „Sütlac“ Berühmtheit bis hinüber nach Istanbul, denn angeblich ist nur die besonders gute Milch der Kühe aus Hamsiköy geeignet, ihn so cremig zu kochen, wie er eben ist. Wir erinnern uns an ein abgelegenes Örtchen mitten in der einsamen Bergwelt, an einen Herrn, der sich uns auf der Dorfstraße in den Weg stellte und (nachdem das Manöver gelungen war) in seine Küche winkte, wo er einige Topfdeckel für uns anhob. Den berühmten Milchreis bekamen wir erst, nachdem wir etwas „G´scheit´s“ gegessen hatten, nämlich Bohneneintopf mit Pilaw. Dafür durften wir dann aber sogar Extraportionen Sütlac mitnehmen. Und 2025? Wenn Hamsiköy und seine Spezialität schon sechs Jahre zuvor einen Bekanntheitsstatus genossen hatte, ist es nichts gegen das, was sich hier seither entwickelt hat! Inzwischen muss jemand die Marketingmaschine angeworfen und auf Hochtouren gebracht haben, denn wir erkennen nichts wieder. Restaurants und Hotels sind wie von Zauberhand aus dem Boden geschossen, die für Sütlac werbenden Banner am Straßenrand nehmen kein Ende. Touristen (ein Großteil sichtlich aus dem arabischen Ausland, darum die Beschriftungen überall jeweils auch mit arabischen Schriftzeichen) werden in Reisebussen heraufgekarrt. Als zweites Standbein wurde der Verkauf von Honig ins Programm aufgenommen, in kleinen Lädchen sind Honiggläser wie Schmuck in Regalen beleuchtet und aufgestellt. Und als ein als als Bienenmaskottchen verkleideter Saisonarbeiter uns vom Straßenrand aus zuwinkt entscheiden wir gleichzeitig: Schluss mit dem überfüllten Wahnsinn auf der engen Bergstraße. Wir behalten „unser“ Hamsiköy in Erinnerung, wie wir es (ja, außerhalb der Saison!) kennengelernt haben, kehren um und finden tatsächlich ein kleines, wenig besuchtes Familienrestaurant mit grandioser Aussicht (ein bisschen fühlen wir uns wie in Südtirol). Hier schlemmen wir uns durch die Karte und bekommen auch ohne Rummel den traumhaft leckeren Sütlac zum Nachtisch serviert! Was lernen wir? Manche Erlebnisse dürfen einfach so stehenbleiben wie sie sind und müssen nicht wiederholt werden. Denn die Magie der ersten Begegnungen ist ohnehin nicht zu übertreffen!
Und darum nehmen wir als nächstes einen Ort ins Visier, den wir noch nicht kennen: Kackar, das östliche Drittel des Pontusgebirges! Gipfel mit Höhen von bis zu knappen viertausend Metern versprechen kühlere Temperaturen, was uns auf unserem Weg in den georgischen Norden durchaus gelegen kommt. Der Fluss Firtina, der hier eine enge Schlucht gebildet hat und bei Rize ins Meer mündet könnte paddeltechnisch ebenfalls interessant sein. Also durchqueren wir Trabzon, eine der ineinander übergehenden Großstädte an der Schwarzmeerküste und diese ebenfalls bereits bekannte Attraktion bietet keine Überraschung: es ist voll, trubelig, riesig und man ist froh, wenn man es hinter sich gebracht hat. Hier hat sich nichts verändert! Und natürlich hätte man damit rechnen können, dass ein Flusstal, das so nahe an einer Metropole liegt, touristisch voll erschlossen ist! Hier wird geraftet, als gäbe es kein Morgen! Und geziplinet! Und wieder geraftet! Und natürlich auch übernachtet (Hotels ohne Ende!) und gespeist und gepicknickt und wieder geraftet! Alle paar hundert Meter gibt es ein Raft-Camp! Dabei ist die Firtina gar nicht mal so interessant und schon gar kein Naturbach mehr. Im unteren Teil begradigt und mit etlichen künstlichen Stufen ausgestattet (um ihn interessanter zu machen?), präsentiert er sich auch weiter oben einfach nur überlaufen und voller (was wohl?) Rafts! Ich möchte mit meinem Bootchen nicht Teil dieses Halligallis sein und auch Jürgen hat nach unseren letzten tollen Erfahrungen auf ausgesetzten Bächen keine Lust auf Massentourismus.
Und so ist schnell entschieden, einfach mitten hinein ins unbekannte Kackar-Gebirge zu fahren! Es dauert noch etliche Kilo- und Höhenmeter, bis wir den Trubel hinter uns gelassen haben, schrauben uns aber alsbald auf immer schlechter werdenden Straßen (nachdem Jürgen ein wenig Luft aus den Reifen gelassen hat, fühlen sich die Schläge nicht mehr ganz so heftig an!) von Meeresniveau auf 2800 Meter hinauf. Und hat jemand gehört, wie sich über unerträglich heiße Sommertemperaturen beschwert wurde? Damit ist es schnell vorbei, plötzlich befinden wir uns im alpinen Herbst. Das Thermometer stürzt auf vierzehn Grad ab, Nebel beginnt uns zu umwabern, der bald so dicht ist, dass wir uns fragen, wie wir von der steilen Bergstraße aus jemals einen einigermaßen ebenen Schlafplatz erspähen sollen.
Kühe, Ziegen, Schafe und eingemummelte alte Weiblein kreuzen unseren Weg in der trüben Suppe. Irgendwo soll sich ein letztes Dorf befinden, dort könnte sich eine Gelegenheit auftun… Und so ist es auch! Wir parken zwischen Kühen auf der schlammigen Dorfstraße (oder ist eine Ansammlung von vier Häusern noch gar kein Dorf?) und sprechen einen etwa zwölfjährigen Jungen nebst einer Frau (seine Mutter?) an: „English? German?“ Der Junge wiegt den Kopf und hält Daumen und Zeigefinger etwa einen Zentimeter weit auseinander. Wenig, meint er wohl. Wir wollen einfach nur vermitteln, dass wir uns in der Umgebung des Dorfes einen Übernachtungsplatz suchen. Süt? wird gefragt, was Milch bedeutet. Pantomimisch wird weitergefragt, ob wir ein Bett brauchen? Wasser? Essen? Cay??? Bei Cay sagen wir einfach mal ja, vielleicht kann im Laufe der Tee-Zeremonie mehr geklärt werden. Die sichtlich erfreuten Bewohner führen uns in ein kleines Haus, hier brennt ein Feuer im Ofen, wir dürfen uns an den Tisch setzen und sofort sitzen uns drei Teenager gegenüber und stellen neugierige Fragen. Oder versuchen es wenigstens. Denn obwohl sie besser Englisch können, als sie zugeben mögen, ist der Informationsaustausch eher zäh. Was der allgemeinen Freude keinen Abbruch tut. Und nur mit Cay kommen wir ohnehin nicht davon! Die Mutter zweier der Kinder (Halise) bereitet aus Butter und Käse einen köstlichen heißen Dip zu, dazu gibt es Gurke, Oliven und Brot. Wir dürfen essen, mit Händen und Füßen werden die Familienverhältnisse geklärt (Tante, Mutter, Cousine, Cousin: soweit können wir folgen) und jeder nennt seinen Namen (ob Jürgen sich auch nur einen davon merken kann?) und gestikuliert sein Alter. Über fünfzig sind wir schon? Erschrocken-begeistertes Quietschen der Jugendlichen. Irgendwo im oberen Teil des Grundstücks gibt es Internet, wird bedeutet, vielleicht funktioniert so die Übersetzungs-App. Was nicht schlecht wäre, denn wir haben das Gefühl, dass unseren Gastgebern immer noch nicht komplett klar ist, was wir eigentlich suchen. Aber zuerst essen! Und Tee trinken, da ist Mama Halise streng! Erst im Anschluss darf Jürgen den Internet-Hotspot mit den Jugendlichen aufsuchen. Und nachdem alles geklärt ist, die Kuhställe (drei gibt´s davon: Männlein, Weiblein, Jungtiere) besichtigen. Und alle Namen der Tiere nachsprechen, da ist die Jugend streng!
Inzwischen bringt der Opa die frische Milch der besichtigten Tiere und wir können miterleben, wie mittels einer mechanischen Zentrifuge die Butter gewonnen wird. Mit großem Ernst kurbelt der Großvater das Gerät, es dauert jedoch nicht lange, bis ich aufgefordert werde, ihm die Arbeit abzunehmen. Schneller! wird mir bedeutet (inzwischen befinden sich auch die Großmutter, eine Tante und eine Nachbarin mit im Raum) und ich gebe alles! Ob Jürgen es noch besser kann? In Nullkommanichts wird er auf das Höckerchen befördert und anscheinend macht er seine Sache so gut, dass es fortan seine Aufgabe bleibt, die Zentrifuge zu drehen und die schätzungsweise fünfzig Liter Milch von der Butter zu trennen, während der Opa es sich sichtlich zufrieden gemütlich macht. Derweil bekomme ich ebenfalls eine Kuhstallführung der beiden zwölfjährigen Cousins (und darf anschließend meine Fähigkeiten im Nachsprechen der Rindvieh-Namen beweisen) und hinterher ein traditionelles Kopftuch von Mama Halise. Übrigens wohnt die junge Familie nicht immer hier oben im Dorf Yayla (die Ähnlichkeit mit meinem Namen sorgt für große Freude), sondern eigentlich in Ankara und weilt nur über die Ferien bei den Großeltern. Halises Ehemann wiederum arbeitet in einem Hotel in Antalya und ist des Englischen mächtig. Was dazu führt, dass Sohnemann Eymen ihn in Fällen größeren Nichtverstehens sofort via Smartphone dazuschaltet, denn das Internet im Hinterhof hat die Eigenschaft, immer wieder zu verschwinden. Für die Frühstückseinladung am nächsten Morgen braucht Mama Halise keinen Übersetzer. „Schlafen“ spielt sie uns panomimisch vor. „Aufwachen!“ und „Brunch!“ und lacht über das ganze Gesicht, als wir uns verstehen!
Auch der nächste Tag bringt keine Klarheit, weder optisch noch sprachlich: der Nebel hängt weiterhin wie eine dichte Decke zwischen den (vermutlich irgendwo vorhandenen) Bergspitzen. Hände, Füße und eine nur leidlich funktionierende Offline-Übersetzungs-App sorgen für Spaß und Missverständnisse, was der guten Stimmung keinen Abbruch tut. Abgesehen davon scheinen die Bewohner des Dorfes nach etwa zwölf Stunden zu glauben, wir hätten nun eine Art Türkisch-Crashkurs durchlaufen und wären nun zumindest ansatzweise dieser Sprache mächtig. Immerhin können die drei Teenager mit rudimentären Englisch-Kenntnissen aufwarten. Was gibt es über den „Brunch“ zu sagen? Vielleicht soviel: in einem von mir mitgeführten Osttürkei-Reiseführer beinhaltete das Kapitel zum Thema „Essen“ folgenden Satz:“ Beginnen Sie in der Osttürkei nicht mit einer Diät.“ Ich könnte noch hinzufügen: „Insbesondere nicht, wenn man in einem Milchwirtschafts-Betrieb zu Gast ist!“ Denn die Hauptzutat bei nahezu jedem Gericht heißt: Butter! Die hier natürlich keine Mangelware ist! Wo in Deutschland akribisch jedes Teelöffelchen gesundheitsbewusst abgezählt wird, landet hier großzügig ein halber Butterblock in der Pfanne: Käsedip, Tomatensoße, Bulgurpfanne, Grünkohlsuppe – ohne Butter geht nichts! Und man kann nicht sagen, dass es nicht lecker ist! Trotz der Sprachbarriere erfahren wir Einiges über das Leben in dieser abgeschiedenen Gegend. Von März bis September ist das kleine Dörfchen bewohnt, üblicherweise verbringen die Familien mit Kindern die langen Sommerferien hier oben, um ihren Eltern bei der Arbeit zur Hand zu gehen. In unserem Fall sind das eben Mama Halise mit den Kindern Azra, Eymen und der kleinen Marcan, sowie Halizes Schwester Filiz und Sohn Deniz. Im September wird alles dicht gemacht und die Kühe in Lastwagen zu Tal gekarrt, wo die Bergbewohner im Großraum Rize am Schwarzen Meer ihre Winter-Höfe beziehen. Gerne würde ich dieses Spektakel einmal miterleben: neunundzwanzig Rinder besitzt allein „unsere“ Familie, jede Menge weitere gibt es auf anderen Höfen des Dorfes und die Straße hier herauf ist extrem unwegsam, steil und mit engen Kurven ausgestattet. Die Winter hier oben sind hart: bis zu sechs Meter Schnee sind normal, Lawinen und Stürme an der Tagesordnung, die Wege nicht befahrbar. Für Menschen nicht bewohnbar. Von einem Nachbarn erfahren wir, dass das Regiment in dieser Zeit von den Bären übernommen wird. Schnell hatten diese wohl heraus, dass in den Vorratskammern der für den Winter verbarrikadierten Häuser allerlei Leckeres wie Reis oder Linsen zu finden sein könnte und keinerlei Störung durch Menschen zu erwarten wäre. Mit ihrer immensen Kraft war es für die Tiere kein Problem, die Türen samt Rahmen zu Kleinholz zu verarbeiten, um so auf einfache Art und Weise an ihren Festschmaus zu kommen. Was wiederum dazu führte, dass nun in regelmäßigen Abständen Futter via Helikopter abgeworfen wird, um Schlimmes zu verhindern. Schlau muss Bär sein…
Wir sind inzwischen gut genug gestärkt, um uns durch Mithilfe bei der Butterherstellung für das Frühstück zu revanchieren. Denn die Trennung von Milch und Fett war nur der erste Schritt des Prozesses. Hier entstand der relativ flüssige „Kaymac“, der übrigens auch schon auf dem Esstisch Verwendung findet: in einem Schälchen angerichtet wird mir gestikuliert, ein Stück Brot zuerst in Marmelade und dann in Kaymac zu tauchen. Anscheinend mache ich es nicht richtig. „Tiefer eintunken“ turnt mit Deniz vor. Das Brot muss die maximale Menge an Fett aufnehmen, bevor es in die Marmelade und anschließend in den Mund darf. Lecker! Deniz ist übrigens ein strenger Lehrer, der einen die türkischen Worte und Gepflogenheiten so oft wiederholen lässt, bis sie perfekt sitzen. Wo er diese Strenge wohl herhat? Wahrscheinlich von der Oma. Energisch füllt sie den von uns gestern gewonnenen Eimer Kaymac in ein hölzernes Butterfass, das mit Seilen an der Decke aufgehängt wird. Vorne und hinten sind an diesem Fass Griffe angebracht, die dazu dienen, es mit möglichst viel Kraft vor und zurück zu bewegen. Salzwasser wird noch dazu gekippt und los geht´s. Wir geben alles! In verschieden Konstellationen wird das Butterfass geschüttelt, Sieger bleibt aber mit großem Abstand die Oma! Unglaublich, mit welcher Kraft sie das Fass in Bewegung versetzt. Unterarme wie ein Gewichtheber hat sie. Sportstudio überflüssig! Dreimal wird die Flüssigkeit abgegossen und wieder erneuert, anschließend wäscht und knetet die Oma die fertige Butter noch unter klarem, kaltem Wasser. Fertig! Aus der Milch wird Käse gemacht. Auf dem mit Feuer beheizten Ofen erhitzt, gibt Halise aus einem Fläschchen Lab dazu und in nullkommanichts trennt sich ein Klumpen Käse aus der Flüssigkeit, der ebenfalls kräftig geknetet und zum Reifen in die Vorratskammer gestellt wird. Wir dürfen probieren und wissen nun auch, dass der in Deutschland zum Grillen so beliebte „Quietschekäse“ nichts anderes ist, als frischer, nicht gereifter Käse.
Der Nebel wabert immer noch und so beschließen Jürgen und ich, einen kleinen Spaziergang zu machen. Schließlich muss für die nächste, reichhaltige Mahlzeit ja wieder Appetit entstehen. Denn dass wir auch beim Abendessen zu Gast sind, ist gesetzte Tatsache. Da lässt Halise nicht mit sich spaßen! Die drei Teenager schließen sich uns an und führen uns sofort zur Sehenswürdigkeit Nummer eins: am Fuße des steilen Hanges nahe bei einigen bequemen Steinen befindet er sich: der Internet-Hotspot des Tals! Völlig erstaunt sind die drei, als sie erkennen müssen, dass wir gar nicht auf der Suche nach dem Internet waren, sondern tatsächlich die Umgebung besichtigen wollen. Was zugegebenermaßen nur eingeschränkt möglich ist. Immerhin: dass die Bergwelt eine erstaunlich Zahl verschiedener Bergblumen zu bieten hat, ist zu erkennen. Und so stapfen wir ohne die Teenager den Berg hinauf, die nutzen ihren Hotspot! Auf halbem Wege holt uns Deniz dann aber doch wieder ein, um uns vor den Bären zu warnen! Trotzdem geht er mit, den Berg hinauf, einmal quer und wieder hinunter. „You are grazy!“ stellt er fest. Wandern scheint nicht die übliche Art zu sein, sich fit zu halten. Ist ja auch nicht nötig: wie wir erleben, sorgt Stall ausmisten, Kühe melken und Butter herstellen definitiv für ausreichend Bewegung. Und wer sich bewegt muss natürlich auch essen! Wir sind überwältigt von so viel Gastfreundschaft! Wir versuchen, mit ein paar Lebensmitteln aus unserem Auto etwas beizutragen, doch ganz offensichtlich ist das unseren Gastgebern gar nicht recht. Bei einem Telefongespräch mit dem deutsch sprechenden Bruder des Opas hören wir: keine Chance! Man kann maximal den Kindern etwas geben. Was wir dann auch tun. Ein kleines Taschengeld und eine Cola kommen gut an und werden auch von den Erwachsenen akzeptiert.
Und dann: freie Sicht am nächsten Morgen! Die ganze wilde Welt des Kackar-Gebirges liegt vor uns! Schroffe Gipfel, steile Hänge, alles durchschnitten von einem rauschenden Wildbach. Hat es sich gelohnt, so weit heraufzurumpeln? Hat es! Nach einem weiteren leckeren Frühstück (wir widersprechen Halise schon gar nicht mehr) klettern wir die steilen Hänge hinterm Haus hinauf. Wege? Fehlanzeige! Wir suchen uns selbst welche! Und sind mehr als überrascht von der Blumenwelt, die sich uns bietet: ich könnte nicht einmal sagen, wie viele verschiedene Sorten hier blühen. Zwanzig? Fünfzig? Es ist unglaublich, hier halten die europäischen Alpen nicht mit! Völlige Ungestörtheit in dieser ausgesetzten Gegend! Etwa achthundert Höhenmeter kraxeln wir steil hinauf, finden Schnee und auf der gegenüberliegenden Seite des Tals die schroffen Gipfel der höchsten Erhebungen des Kackar-Gebirges: den Kackar-Dagli mit knapp viertausend Metern Höhe. Und wo ist eigentlich der Nebel hingekommen? Weit in der Ferne über dem Schwarzen Meer breitet sich eine Wolkendecke aus und lässt alles unter sich verschwinden. Wir aber haben freie Sicht und können nun auch erkennen, dass Yayla nicht das einzige Dörfchen in den umliegenden Tälern ist. Weitere Ansammlungen von Häusern mit den funkelnden Blechdächern entdecken wir an den Hängen.
Nochmal Abendessen! Es ist immens mit wieviel Energie Halise hier Tag für Tag Mahlzeiten für zehn und mehr Leute in der kleinen Küche zaubert und dabei die Zügel in der Hand hält, Aufgaben verteilt und beste Laune versprüht. Immerhin, Hilfe wird angenommen und so können Jürgen und ich uns revanchieren, indem wir beim Kochen und (wieder) bei der Herstellung von Kaymac helfen. Nachtisch gibt´s auch: kleine Muffins hat Halise gebacken und weil sie noch nicht süß genug sind, mit einer erstaunlichen Menge an Zuckerwasser übergossen. Wieder lecker! Zum Einsatz kommen außerdem die allseits beliebten Sonnenblumenkerne. Das Knacken und Knabbern derselben ist beinahe Volkssport. Plus natürlich der obligatorische Cay! So richtig gerne verabschieden wir uns nicht am nächsten Tag, aber vielleicht – wer weiß? – gibt es im Herbst ein Wiedersehen in Ankara. Wie wir es geschafft haben, weiß ich nicht, aber wir entkommen ohne Frühstück. Was mir ziemlich leid tut, aber heute gibt es eine größere Strecke zu bewältigen. Langsam aber sicher nähern wir uns der georgischen Grenze! Wir verlassen also unser zauberhaftes Yayla-Tal über die Holperpiste, staunen über schroffe Hänge, rauschende Bäche und das eine oder andere Gebirgsdorf (schließlich waren wir ja im Blindflug hier herauf unterwegs) und schlagen schweren Herzens eine weitere Cay-Einladung am Wegesrand aus: ein freundliches Bäuerchen winkt uns neugierig zu. Es folgt der Rummel im Firnita-Tal: Reisebusse, Riesenschaukeln, Rafts, Menschenmengen, Kulturschock! Ein kurzes Frühstück direkt am Fluss, ein nicht sehr viel längerer Blick ins Schwarze Meer und weiter geht´s in die nächsten Hügel.
Wir nähern uns einem weiteren Ausläufer des Kackar-Gebirges. Grüne Hügel voller Teeplantagen. Die Ernte ist in vollem Gange, überall Teepflücker, LKW voller Säcke mit der heißen Ware! Irgendwo muss das Rohmaterial für den beliebten Cay ja herkommen! Und dann geht´s flussaufwärts am Fluss Okcular. Riesige Staudämme und es wird immer weiter gebaut! Weiter oben treffen wir das Gewässer in seiner natürlichen Form an. Wildwasser, das einem schon beim bloßen Anblick Herzrasen verursacht! Das ist nur für Profis geeignet! Felsabstürze, Verblockungen und Unterspülungen – hier schaut sogar Jürgen lieber von außen zu! Wir sind genug gefahren und schlagen unser Lager direkt am Flussufer auf. In er einbrechenden Dämmerung singt aus der Ferne der Muezzin, direkt gegenüber in den bewaldeten Hängen fallen dutzende von Goldschakalen mit ein. Und in einem Gebüsch leuchtet einsam ein Glühwürmchen.
Kommentar schreiben
Carmen B. (Dienstag, 29 Juli 2025 15:07)
Oh, wieder so ein toller Bericht! Dank Euch, dass wir teilhaben dürfen! Ich bin jetzt Türkei-Fan ;-)
Liebe Grüße!