Ja, wie macht man das? Am besten aus Versehen. Zuvor jedoch verabredet man sich mit Georgien-Guide Misha zu einer ungeplanten Paddeltour. Letzteres ist natürlich nicht unbedingt nötig, um nach Khevsureti, der angeblich zweit wildesten Ecke in Georgien, zu kommen. Ist man aber schon einmal unterwegs Richtung Datvisjvari-Pass und macht man, wie in der letzten Geschichte erwähnt, einen Übernachtungs- und Wäschewasch-Stopp am Aragvi, dann sollte man sich von dessen Zahmheit nicht täuschen lassen. „Wir müssten schon sehr verzweifelt sein, wenn wir bei diesem Wasserstand hier fahren wollten“, erzählen wir Freunden am Telefon angesichts der nicht vorhandenen Fluten und unzähligen Kiesbänke direkt vor unserem Campingplatz. Als hätte er von unserer Fehleinschätzung gehört, meldet sich Misha Minuten später mit der Frage: „Lust den Aragvi zu paddeln?“ Er könnte morgen von Tbilisi mit Tochter und Kumpel aus Slowenien vorbeikommen. Wir zweifeln immer noch an der Spaßigkeit des langweiligen Baches, vertrauen aber trotzdem auf Mishas Einschätzung: wer, wenn nicht er kennt sich hier wohl aus? Und so startet am nächsten Tag ein georgisch-slowenisch-deutsches Vierergespann am Einstieg des (Achtung, wichtig!) Pshavis Aragvi. Denn den Fluss Aragvi gibt es in der Region sage und schreibe viermal. Darum der Namenszusatz.
Und was soll ich sagen? Die Tour startet gleich spannend mit einem Schwimmer! Misha paddelt vom Einstieg aus wenige Meter flussaufwärts in einen Pool um ein paar Badenden und sehr Interessierten eine Rolle vorzuführen – oder um zu testen, ob seine Rolle noch sitzt. Was sie nicht tut. Zumindest nicht in dieser Situation. Dreimal wird tapfer versucht, dann wird ausgestiegen. Mit 102 Kilogramm Körpergewicht hätte es noch geklappt, erklärt Misha, fünf Kilogramm später fühlt sich alles so ganz anders an. Kopf unten lassen beim Rollen wäre auch gut, meint Jürgen. Und tatsächlich, die nächste Rollprobe gelingt besser. So kann es also losgehen. Mit zwei plus ist die Strecke eingestuft, völlig entspannt also. Was allerdings nicht vergessen werden darf, es ist eine georgische zwei plus, darum darf gerne ein halbes Level dazu gerechnet werden. Und tatsächlich überrascht der Aragvi-Abschnitt aufs Positivste. Wir befinden uns fünfzehn Kilometer oberhalb des Campingplatzes, hier präsentiert sich der Fluss schmaler und tiefer, hübsche Wellenzüge und Kehrwasser machen das Ganze spritzig und viel interessanter als gedacht! Ein abfallender Katarakt hat etliche größere Felsbrocken zu bieten, die umzirkelt werden dürfen. Die zweite Gelegenheit für Misha, seine Rollfähigkeiten zu demonstrieren. Dass er hier doch lieber aussteigt, ist uns angesichts der Steindichte im Katarakt dann doch ganz recht. Nachdem er heroisch wieder im Boot sitzt erzähle ich ihm vom Bademeister-Wettbewerb des Kanu-Club Bietigheim: der Paddler mit den meisten Schwimmern der Saison bekommt Badetuch und Gummiente. Sofort ist er hoch interessiert und bewirbt sich offiziell für den Contest. Leider verläuft der Rest der Tour ohne weitere Schwimmer. Müsste er sich für seine „Rubber Duck“ nicht etwas mehr anstrengen? Der spannendste Part des Fluss-Abschnitts findet übrigens kurz vor Ende statt: hier verengt sich der Wasserlauf noch einmal deutlich, schießt zwischen dschungelartig überwucherten Steilufern hindurch, um spektakulär über eine Stufe nebst kreiselndem Kehrwasser wieder in ruhigere Wellenzüge überzugehen. Zweiplus auf georgisch. Erst auf dem letzten Kilometer findet das befürchtete Bootsgeschrabbel statt, aber das nehmen wir alle gern in Kauf.
Kurz vor dem Campingplatz darf Mishas Tochter Elena mein Boot übernehmen, um mit Papa die erste Kajakstunde ihres Lebens zu absolvieren. Ein bisschen hin- und her paddeln, ein unbeabsichtigter Flip, zurück ins Boot und schon dürfen die zweihundert Meter bis zum offiziellen Ausstieg auch schon zurückgelegt werden. Wer von beiden wohl stolzer ist?
Auf jeden Fall kennt Misha die besten Khinkali-Produzenten Khevsuretis und kurz darauf sind wir auch schon auf dem Weg dorthin. Unterbrochen von einem kleinen Arbeitseinsatz im Aragvi: ein sich im Fluss befindender Ast auf Kopfhöhe ist Misha im wahrsten Sinne des Wortes ein Dorn im Auge, doch Dank der mitgeführten Mini-Motorsäge ist das Problem in nullkommanichts behoben.
Im gemütlichen Gartenrestaurant blubbert die Fleischbrühe schon in hundert Jahre alten Kesseln über dem Feuer und wartet nur darauf, unsere handgedrehten Khinkali fertig zu garen. Und es wurde nicht zuviel versprochen: tatsächlich sind es die besten, die uns bisher serviert wurden! Wie in Georgien üblich spricht der (in diesem Fall selbst ernannte) Tamada (der Tisch-Vorstand) in Form von Misha mehrere Toasts: auf das neue Paddelmitglied Elena; auf alle Verstorbenen (auf die, wegen des im Himmel nicht vorhandenen Alkohols gerne mit Hochprozentigem angestoßen wird) ; auf alle paddelnden Freunde, das Wasser und sich selbst.
Gut gestärkt und voller neuer Erlebnisse kann am nächsten Morgen das nächste Abenteuer in Angriff genommen werden: die zweit wildeste Ecke (Khevsureti) und den „gefährlichsten“ Pass Georgiens (Datvisjvari) zu finden. Was zuerst einmal nicht schwer ist, denn es geht immer am Aragvi hinauf. Viel schwieriger ist es, einen gut ausgestatteten Laden zu finden, um sich für die wilde Gegend einzudecken. Denn einen solchen gibt es nicht. Wir geben uns also mit der vorhandenen Auswahl im Tante Emma-Lädchen zufrieden und ernähren uns die nächsten Tage anscheinend von Kartoffeln, Tomaten, Nudeln und Eiern. Woran man nicht stirbt. Einzig dramatisch: keine Milch, also auch kein Milchschaum! Denn in Georgiens Nescafe ist Milch nicht vorgesehen, die wird samt und sonders zu Käse verarbeitet. Die Passstraße ist nicht ohne, in unzähligen Serpentinen windet sie sich in die Höhe, Schotter und Gestein knirschen unter den Reifen, immer wieder eine steile Furt. Konzentration ist angesagt, besonders, wenn auf den schmalen Straßen Gegenverkehr auftaucht. Trotzdem haben wir, erfahren wie wir inzwischen ja sind, schon Schlimmeres erlebt. Man denke nur an die Wiese in Stepantsminda! WIE steil abfallend die Felswände direkt unterhalb der Straße sind, nehmen wir von hier aus nicht wahr. Die Bilder unseres Drohnenfluges zeigen es uns erst viel später! Manchmal gut, nicht immer alles zu wissen. Allerdings steht uns die Rückfahrt denselben Pass hinunter noch bevor.
Denn wir fahren sozusagen in eine Sackgasse: der hinterste Zipfel Khevsuretis direkt an der russischen Grenze mit seiner ausgesetzten Bergwelt ist sozusagen eine Sackgasse. Hier geht´s nur zu Fuß oder via Pferd über die wilden über dreitausend Meter hohen Pässe weiter. Straßen gibt´s nicht mehr. Nach einem Stopp am 2676 Meter hohen Bärenkreuzpass mit Glocke und georgischer Flagge und einem Schleierfall mit Regenbogen am Straßenrand geht´s wieder abwärts – genauso holprig, genauso spannend, bis wir im Ort Shatili ankommen.
Sozusagen die „Hauptstadt“ der Provinz mit etwa zwanzig Häusern, keines davon ganzjährig bewohnt und einer sagenhaften Ansammlung von Wehrtürmen, genannt Koshkebi – wieder einmal. Allerdings ganz anders als in Svaneti. Diese Türme wirken gedrungener und stehen nicht einzeln, sondern knubbeln sich zu einer Festung zusammen. Kein Wunder: dienten diese Türme wirklich dem klassischen Zweck, sich gegen Feinde und Wetterkapriolen zu verschanzen und nicht, um sich über Jahrhunderte hinweg in verschiedenen Nachbarschaftsstreits zu bekämpfen. Schon auf der Herfahrt waren uns vor jedem Dörfchen weitere hoch auf den Felsen thronende Türme aufgefallen: Beobachtungsstationen und Meldeposten bei Gefahr – wer kennt nicht die ikonische Leuchtfeuerszene aus „Herr der Ringe“? Manche der Türme stammen schon aus dem 6. Jahrhundert, die meisten aus dem 10. bis 12. Sie wurden aus Schiefer und anderen Steinen ohne jeglichen Mörtel, Bolzen oder Nägel einfach aufgeschichtet und stehen bis heute zum größten Teil immer noch imposant an den Berghängen. Inzwischen sind manche davon zu Gästehäusern umgebaut, die meisten dürfen jedoch einfach so angeschaut werden. Was wir auch tun. Die Verantwortung für das Erkunden der Ruinen übernimmt einfach jeder selbst – in Deutschland wäre das Ganze längst mit rot-weißem Flatterband gesperrt. Denn nicht jeder Boden in jedem Turm sieht wirklich begehbar aus und die Trampelpfade zwischen den Gebäuden sind steil und rutschig. Augen auf, dann ist alles kein Problem. Beeindruckend ist der Wehrkomplex mit seinen Treppen, Balkonen, Dächern, Mauern und Durchgängen auf jeden Fall. Und ganz oben auf einer Dachterrasse befindet sich ein kleines Cafe mit toller Aussicht. Allerdings ohne Essen, denn „electricity is finished“ wird uns berichtet. Was sich, zumindest für den Moment, ziemlich endgültig anhört. Und man kennt die georgische Art der Stromversorgung inzwischen bestens.
So rumpeln wir noch einige Kilometer weiter auf der staubigen Straße, merken uns ein nettes Schlafplätzchen am Andakistkali-Fluss und werfen noch einen kurzen Blick auf das Örtchen Mutso (drei Häuser – ist das schon ein Örtchen?). Wieder ein Cafe – ob morgen Frühstück möglich wäre, frage ich. Die junge Dame hinterm Tresen nickt eifrig (ob sie mich wirklich verstanden hat?) und so schlagen wir unser Lager kurze Zeit später an besagter Stelle unter Birken am Bächlein auf und brutzeln Kartoffeln, Tomaten und Eier – nicht die schlechteste Kombination.
Am nächsten Morgen haben wir wenig Glück mit unserem Frühstücksplan: Türe offen, Licht brennt, aber keiner da. Ein junger Mann am Wegesrand spricht Englisch. Frühstück? Yes, yes! nickt er eifrig. Späht durch die Ritzen in der Cafehaus-Wand, zuckt die Schultern, meint unschlüssig: no breakfast? Dann geht ein Leuchten über sein Gesicht. In ten minutes! Wir warten. Und warten. Immer noch keiner da. Ich frage nochmal und anscheinend unterlag er einer Fehleinschätzung. Vielleicht später Lunch? Vielleicht. Zuerst einmal erkunden wir das tiefe Tal direkt hinter der russischen Grenze weiter mit unserer tapferen „13“. Irgendwo werden wir ein Frühstückspicknick aufbauen und dann zu Fuß weiter entdecken. Geradeaus ist irgendwann Schluss: hier befindet sich eine tiefe Furt. Nichts für unseren Camper. Nach rechts geht´s weiterhin steil aufwärts. Das wagen wir! Dass es SO steil wird hätte ich jedoch nicht gedacht! Kurve um Kurve schrauben wir uns in den Himmel und Lob dem Vierradantrieb: die „13“ klettert ruhig und stetig. Ich bin trotzdem froh, als oben ein kleiner Parkplatz zu entdecken ist. Ein Pfeil: „Ardoti Inn“. Ein Gästehaus und vielleicht machen sie auch Frühstück? Wir folgen hungrig dem Pfeil und (hier folgt die Auflösung der in der Überschrift gestellten Frage: SO! Denn ab hier geht´s wirklich nur noch zu Fuß weiter!) – stehen plötzlich nach steiler Rampe mitten in einem Garten. Mit Terrasse und Gemüsebeet. Und einigen verwundert aufblickenden Gästen in ihren Liegestühlen. Die Besitzerin lässt sich jedoch nichts anmerken, darum klären wir erstmal die wichtigste Frage: gibt´s was zu Essen? Sie legt gleich los und deckt den Tisch mit Pancakes, Spiegelei, selbstgebackenem Brot, Tomaten aus dem Garten und Suppe. Und so fällt die Entscheidung: wir bleiben! Der Camper wird an den Rand geparkt und wir starten in die uns umgebende Bergwelt. Uns gegenüber die Bergketten, die die Grenze zu Russland bilden (einige Grenzposten sind oben zu entdecken), ansonsten bis zum Horizont Gipfel hinter Gipfel, dazwischen tief eingeschnittene Täler, Bäche, Wasserfälle. Einsamer geht es nicht! Der Lebensstil der Khevsuren unterschied und unterscheidet sich übrigens bis heute (bedingt durch die ziemlich isolierte und abgelegene Lage) erheblich von der anderer kaukasischer Völker, ist doch ihre Mythologie und Auffassung der Entstehung der Welt einzigartig. Die Legende besagt, dass die Götter auf einer Funken sprühenden Säule auf die Erde herabstiegen und die Khevsuren bestimmte Kampfkünste lehrten. Feinde besiegten sie mit Feuerpfeilen. Da sich die Khevsuren als Abkömmlinge dieser Götter betrachten, werden heute noch Männern vorbehaltene heilige Plätze besucht, auf denen einmal jährlich zu diesen Göttern gebetet wird. Frauen dürfen diese Plätze nicht besuchen. Wir sehen diese aus Steinen aufgeschichtete mit Kerzen, Bildern, Blumen und Fähnchen geschmückte Schreine überall an den Wegesrändern und Berghügeln. Nach wie vor leben die Khevsuren in Clans. Jeder Clan beherrscht eine bestimmte Kampftechnik, darum galten diese Menschen lange Zeit als gute Leibwächter für georgische Könige. Und wir, gefühlt auf dem Gipfel der Welt stehend und beobachtend wie am Nachmittag langsam die Nebel in die Tälern hineinwabern: wir können uns schon vorstellen, wie derlei Mythen entstehen!
Wanderwege sucht man hier übrigens vergeblich! Man macht sich einfach selbst welche. Manchmal stoßen wir auf ausgetretene Pfade, es ist jedoch nie sicher, ob es sich um einen von Menschen getrampelten Weg, um eine Kuh-Schneise oder um die Spuren anderer wilder Tiere handelt. Und so erleben wir einen spannenden Tag in Khevsuretis wilder Einsamkeit inklusive Kletterpartien, Dschungelerlebnis und Gratwanderungen. Und ich denke: wird es – irgendwann in ferner Zukunft – schöner sein, wenn wir auf erschlossenen Wegen, geplanten Touren, mit Cafes und Touristen-Programm hier unterwegs sind? Ich glaube nicht!
Sobald die Sonne sinkt, wird es plötzlich ziemlich kühl. Gut, dass unsere drei Gastgeberinnen (Oma, Mutter und Enkelin) gleich den Badeofen für uns einheizen. Denn das hier verwendete Wasser kommt direkt aus dem Fluss und ist entsprechend eisig. Während wir auf das warme Wasser warten, unterhält uns die neunjährige Enkelin Marita in bestem Englisch mit allerlei Geschichten aus der Bergwelt. Einen Bären hätte sie oben am Hang schon gesehen und manchmal heulen nachts die Schakale. Sie klingen wie Frauen und das Geheul ist ihr ziemlich unheimlich. Reiten kann sie gut, erzählt sie und zeigt den Hügel hinauf: dort steht ihr Schimmel Bluey. Einmal wären nachts Wölfe gekommen und hätten vierzehn Pferde in der Umgebung gerissen, zum Glück keines von ihnen. Ich frage, woher sie so gut Englisch kann. Sie schaue sich Filme in Englisch an, berichtet sie, denn sie mag diese Sprache und inzwischen träume sie sogar manchmal in Englisch. Und überhaupt liebe sie es, Englisch zu sprechen. Und hat noch viel mehr zu erzählen, bis sowohl Jürgen, als auch ich (abwechselnd) geduscht sind und Mutter und Großmutter ein fantastisches khevsurisches Dinner auf den Tisch gestellt haben. Wir dürfen essen und Marita wird von Oma abgeführt. Genug erzählt!
Am nächsten Morgen rumpelt einer der in Georgien überaus beliebten, geländegängigen Delicas in den Garten. Die Insassen stehen staunend vor unserer „13“ und können kaum glauben, wie wir es damit heraufgeschafft haben. Die Erklärung „4x4“ beruhigt die Gemüter ein wenig. Und gleich darf unser tapferes Auto zeigen, wie man die Horror-Piste vom Vortag wieder hinuntergelangt. Nicht mein Lieblingspart, aber alles geht gut. Nächster Stopp: das geschlossenen Cafe vom Vortag. Mit dem Unterschied, dass es diesmal geöffnet hat. Und ziemlich voll ist. Denn außer uns sitzt nicht nur ein dreiköpfiges Bergsteigertrüppchen drin, sondern auch die große Freundesclique, die das Gästehaus neben unserem bewohnte. Begeisterte Wiedersehensfreude eine halbe Stunde nach dem Abschied. Und gleich die Empfehlung den Hang nebenan zu besteigen: ein überaus pittoreskes, verlassenes Dörfchen mit den typischen zusammengedrängten Wehrtürmen soll sich dort befinden. Natürlich folgen wir dem Vorschlag und befinden uns bald im historischen Mutso, das derzeit aufwändig restauriert wird. Die Türme befinden sich insgesamt in einem recht guten Zustand, so dass die charakteristische und überaus haltbare Bauweise (die ohne Mörtel und Bolzen) ins Auge fällt. Trotzdem stehen die meisten der Türme seit unglaublichen tausend Jahren. Wenn die Konstruktion allerdings mal anfängt, an einer Stelle zu zerfallen, dann geht’s schnell. Ein Turm neigt sich schon gefährlich bananenförmig zur Seite. Pisa ist überall. Einige Bauarbeiter ergreifen aktuell fleißig Gegenmaßnahmen und lassen sich via Transportseilbahn die dafür benötigten Schiefersteine anliefern. Am Rande eines kleinen Gässchens erzählt uns ein junger Georgier gleich noch eine lokale Legende zu „Old Mutso“: wie so oft gab es auch hier einen Volkshelden, der dieses Dorf gegen einen Angriff von fünfhundert Feinden alleine verteidigen konnte. Eines Tages wurde er jedoch trotzdem gefangen genommen, zur Strafe wurde ihm die rechte Hand abgehackt. Er konnte aber entkommen und später fand man in seinem Wohnturm die abgehackten Hände von hundert Feinden. Hier vermischen sich Wahrheit und Legende, wird uns erzählt. Die besagten Knochenfunde im Turm gab es wohl tatsächlich und durch seine überaus ausgesetzte Lage und den vielen Wachtürmen auf jedem Berggipfel rundherum konnte Mutso wohl wirklich nie von Feinden eingenommen werden. Fazit: wer es bis zum berühmten Shatili geschafft hat, sollte nicht darauf verzichten, weitere (zugegebenermaßen deutlich rumpeligere) sechs Kilometer auf sich zu nehmen, um auch das alte Mutso zu besichtigen. Für mich das interessantere Dörfchen.
Auf dem Rückweg nach Shatili sammeln wir einen Tramper aus Colorado auf, der gerade die anspruchsvolle Übersteigung des Atsunta-Passes von Omalo her hinter sich hat. Dieser Trail verbindet übrigens die Regionen Tuscheti und Khevsureti. Den staubigen Weg nach Shatili will er sich sparen: essen, duschen, schlafen – so sein Plan für heute. Und unserer? Den tollen Datvisjvari-Pass sicher und entspannt hinunterfahren, das Straßenschild zur Google nicht bekannten Strecke nach Roshka finden, diesem folgen und irgendwo dort in den Bergen einen hübschen Schlafplatz zu finden. Klappt alles! Letzteres sogar überaus gut, denn unsere neue Bleibe ist in allen Richtungen von alpinen Hängen umgeben, hinter denen die Felszacken des Kaukasus in den Himmel ragen. In dieser Kulisse stört es überhaupt nicht, dass mit verschwinden der Sonne plötzlich sehr herbstliche Temperaturen herrschen. Und das erste Mal seit Monaten die Heizung aufgedreht werden muss!
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