DREIZEHN UNTERWEGS
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Auszeit 2025  ·  18. September 2025

Armenien im Nebel

Und einfach so ist am Morgen der armenische Herbst angekommen: nicht wirklich erwartet, aber wunderschön. Zumindest, so weit man sehen kann. Also etwa drei Meter aus der Camper-Tür hinaus über die gelbliche Steppe mit ihren trockenen Blütendolden und hunderten von Spinnenweben, auf denen der Nebeltau glitzert. NICHT zerstören! klare Anweisung von Spinnenliebhaber Jürgen und so schlängeln wir uns bei Dusche und Frühstück durch ein funkelndes Labyrinth. Immerhin schafft es die Sonne bald durch die zähe Nebelsuppe und unter uns taucht der tiefblaue Spandarian Stausee inklusive Kormoranen, diverser Greife und einer großen Schafherde auf. Über die Bergrücken kriechen dichte, weiße Wolken wie ein Wasserfall zu Tal, ein anscheinend lokales Phänomen, das wir schon die letzten beiden Tage bewundern konnten. Wir beeilen uns jedoch, das Ganze schnell zu Ende zu bestaunen, denn die Wetterprognosen für die nächsten Tage sind nicht allzu erfreulich und wenn die Sonne schon mal vorbeischaut...? 

Und so gondeln wir Richtung Goris, eine recht feudale Stadt in Armeniens Süden, in deren Nähe sich DER Hauptverkehrsknotenpunkt der Region Sjunik befindet. Niemand, der auf dem Weg nach oder von Jerewan, der aserbaidschanischen oder iranischen Grenze unterwegs ist, kommt an dieser Kreuzung vorbei! Auch wir lassen uns das Ganze nicht entgehen, winken noch schnell den reichlich vorhandenen LKW hinterher und landen auf den Sträßchen nach Goris wieder in ruhigeren Gefilden. Nebst an den Straßenrändern vorhandenen Blitzern (lange nicht gesehen!) und wie Nachtlokale illuminierte, leuchtende, blinkende Tankstellen. Zweiteres eine Besonderheit Armeniens! Und habe ich die Güte der armenischen Straßen gelobt? Zufahrten zu touristisch interessanten Plätzen halten nicht immer mit dem allgemeinen Standard mit. Auch nicht die aufgeweichte Matschpiste zum nahezu unaussprechlichen Chndsoresk. Was es hier Interessantes gibt? Neben dem erwähnten Offroadabenteuer eine in Armenien einzigartige Höhlenstadt, die außer der Anfahrt noch eine weitere Schikane zu bieten hat (zumindest für Leute mit Höhenangst): die berühmte 160 Meter lange „swinging bridge“ über die Schlucht Khor Dzor, die Alt- und Neu-Chndsoresk miteinander verbindet und grandiose Blicke in die Tiefe gewährt. Um zu dieser Brücke zu gelangen ist ein Abstieg über geschätzt einhundertfünfundachtzigtausend Stufen vonnöten und währenddessen hat man genug Zeit, die Höhlenstadt schon von Ferne zu bewundern. 

Der Ort wird bereits seit dem 13. Jahrhundert erwähnt, in seiner Blütezeit im 17. und 18. Jahrhundert lebten hier etwa 8000 Menschen. Es gab unzählige Höhlenwohnungen, teilweise mehrstöckig, Schulen, Kirchen, Läden. Die Bewohner nutzten natürliche Höhlen oder gruben neue in den porösen Stein und erweiterten das Ganze durch Mauerwerk. Wegen der Topographie mussten Leitern, Seile und schmale Pfade genutzt werden, um von einer Wohnung zur nächsten zu gelangen und natürlich war man im unebenen Gelände bestens vor Angreifern geschützt. Dieser Ort war tatsächlich bis in die 1950er Jahre bewohnt, danach (in der Sowjetzeit) wurde die Bevölkerung größtenteils in den neuen Teil Chndsoresk verlegt. Am Einstieg der Brücke und vor einem kleinen Museum treffen wir auf einen Zeitzeugen, der uns anbietet, ein wenig aus dieser Zeit zu erzählen. Hier geboren lebte er noch etwa fünf Jahre mit seiner Familie in der Höhlenstadt. Das kleine Museum ist sozusagen eine „Beispielwohnung“: bis zu sechzehn Personen wohnten in so einem Einzimmer-Appartement. Der ältere Herr kann sich noch an Dromedare erinnern, die zum Transport von Baumaterial und anderen schweren Gütern im Gelände verwendet wurden. Woher sie kamen? Chndsoresk lag auf der berühmten Seidenstraße. Vermutlich waren diese Dromedare ebenfalls am Abbau der Höhlenstadt beteiligt. Denn zum Aufbau des modernen Ortsteils wurden hier die Mauern abgetragen, um neue Häuser damit bauen zu können. 

Wir schauen uns derweil (und nachdem die „schwingende Brücke“ überquert ist) die alten Häuser an. Die in den Fels gegrabenen „Rückseiten“ sind alle noch da, vom Mauerwerk ist nicht mehr viel übrig. Dafür eine prächtige, rechteckige Kirche und – besonders spektakulär – die schon aus Kappadokien bekannten „Feenkamine“, in denen ebenfalls Fenster und Türöffnungen zu entdecken sind. Und ja: man kann schon eine Weile unterwegs sein. Es ist erlebbar, dass es sich hier um eine echte, ehemalige Stadt handelt, die sich rechts und links der tiefen Schlucht erstreckt. Gegen Spätnachmittag wabert der Nebel durch die alten Gassen und wird dichter und dichter, so dass wir den Rückweg über die Matschstraße auf Sichtweite kriechen dürfen. 

Gut, dass wir das gleich mal geübt haben, denn die Zufahrt zu dem kleinen Hotel oberhalb von Goris (in das wir uns für die nächsten beiden Nächte eingebucht haben) präsentiert sich sehr ähnlich. Wenn auch zum Glück etwas kürzer. Wie gesagt: touristisch interessant und so. Besitzerin Adelina begrüßt uns herzlich und bleibt weiterhin hilfsbereit, als ich ihr die Wäsche der letzten zweieinhalb Wochen auf´s Auge drücke. Inklusive Bettwäsche. Große Ambitionen sind hier zu spüren: liebevoll eingerichtete, saubere Zimmer und ein parkähnlicher Garten, illuminiert von tausenden (?!?) Lichtern. Etliche Glas-Pavillons sind auf der Fläche verteilt: hier wird diniert. Von der angepriesenen Aussicht haben wir derweil erstmal nichts: Nebel, Nebel und nochmal Nebel! Das armenische Wetter hält, was es verspricht.

Am nächsten Morgen aber: tatsächlich, wie versprochen liegt Goris unter uns, die Sicht ist klar und ein paar blaue Wolkenflecken sind zu entdecken. 

Und so handeln wir ausnahmsweise mal völlig nach Plan und machen uns auf den Weg, eine der größten Attraktionen Armeniens zu besuchen! Die Frage, worum es sich hierbei handelt, könnte gut in Günther Jauchs Millionärsquiz passen. Zumindest, wenn sie umgekehrt gestellt wird. Also: „Wo steht die längste durchgehende, doppelte Bahnseilbahn ohne Unterbrechung („longest non-stop double-track cable car“), die es auf der Welt gibt? a) Japan b) Österreich c) Kolumbien oder d) Armenien? Natürlich sind alle fleißigen Mitleser gleich auf der richtigen Spur, schließlich spielen die ersten drei der hier genannten Länder in dieser Geschichte keine Rolle. Und es stimmt: die hier genannte Weltrekord-Bahn verbindet die Orte Halidzor (nahe Goris) und Tatew über eine Länge von 5752 Metern. An der höchsten Stelle schwebt sie 320 Meter über dem Boden. Ein weiterer Rekord ist, dass sie in nur zehn Monaten Bauzeit errichtet wurde. 

nteressant finde ich, dass die Bahn als Teil des „Tatev Revival Project“ gebaut wurde, also einem Projekt, das die „Wiederbelebung von Tatew“ und überhaupt dem Tourismus in Armenien im allgemeinen dienen sollte. Initiiert wurde das Ganze von dem in Russland reich gewordenen armenischen Unternehmer Ruben Vardanyan und seiner Frau Veronika Zonabend. Und das Konzept ging auf: es wurden nicht nur Arbeitsplätze für die Bevölkerung geschaffen, sondern die Attraktion wurde so beliebt, dass das Kloster Tatew, das mit der Bahnfahrt erreicht werden kann, sich zu einem der beliebtesten Touristenziele in ganz Armenien entwickelt hat. Übrigens handelt es sich um ein Non-Profit-Unternehmen: alle Einnahmen werden ausschließlich für die Erhaltung und Restaurierung des Klosters und für die Entwicklung der lokalen Gemeinschaft in Tatew verwendet. Dramatische Geschichte am Rande: Initiator Ruben Vardanyan, der nicht nur dieses, sondern diverse weitere Bildungs- und Kulturprojekte in Armenien initiierte, sitzt derzeit in Haft in Aserbaidschan. Im September 2023 hatte er versucht, eine Gruppe Armenier, die aus Angst vor Ungleichbehandlung und Unterdrückung, ungewisser Rechtslage und Zukunftsperspektiven aus dem zu Aserbaidschan gehörenden  Konfliktgebiet Bergkarabach zu schmuggeln. Hierbei wurde er festgenommen und die Aussichten, freizukommen, stehen derzeit nicht gut. Vorwürfe gegen ihn: Terrorismus, bewaffnete Gruppen, illegaler Grenzübertritt. „Seine“ Bahn steht dagegen hier und bringt fleißig Besucher nach Tatew. Bevor wir ebenfalls dazu gehören, werden wir noch am Parkplatz von einer vierköpfigen, iranischen Familie zum Picknick eingeladen. In Yerewan waren sie, besitzen dieses Auto mit Dachzelt und sind (mit Zwischenstopp hier) gerade wieder auf dem Heimweg in den Iran. Ob wir sie besuchen wollen? Unsere zeitlichen Grenzen und ein fehlendes Visum hindern uns daran, aber wer weiß, was wir auf zukünftigen Reisen noch so alles ansteuern werden? Wir drücken die Daumen, dass die momentan sehr schwierige, politische Lage im Iran sich irgendwann wieder entspannen wird, denn die Gastfreundschaft der Menschen soll phänomenal sein. Eine Kostprobe erleben wir hier und heute schon! Nach dem Picknick die spannende Frage: lohnen sich die „Wings of Tatew“? Wir finden es alsbald heraus, bezahlen die umgerechnet 18 Euro pro Person (in Armenien wahrscheinlich nicht günstig, verglichen mit beispielsweise Schweizer Bergbahnen ein Klacks – und hier gibt´s Weltrekord-Feeling dazu!) und dürfen die schwebende Gondel besteigen. Bis zu dreißig Personen können darin Platz finden und: sie schwebt wirklich! Durch die Spezialkonstruktion gleitet sie federleicht über dichte Baumkronen, die sich in der Tiefe erstrecken. Die einzige Stütze etwa mittig auf einem Berg wird mit einem Hops genommen (Magenkribbeln!), dann geht es zuerst abwärts und dann wieder hinauf zur Tatew-Bergstation. Der Ausblick ist sensationell: hunderte von Metern unter uns nur Luft und ganz unten der fantastische Bergpass mit seinen spielzeugkleinen Fahrzeugen. Ich habe eine neue „Lieblings-Weltrekord-Bahn“!!!

Aber nicht nur wegen der Bahnfahrt lohnt sich der Besuch: hier kann natürlich auch gewandert werden! Großes Lob an Jürgen: hier hatte er mal wieder ein richtig gutes Händchen mit der Wahl der heutigen Tour! Herbstliche Mischwälder, reife Hagebutten und wilde Zwetschgen, beginnend buntes Herbstlaub, ungefähr dreiundneunzig verschiedene Ausblicke auf Kloster Tatew und die grandiose Worotan-Schlucht mit ihren Wasserfällen, spannende Brücken, Adler und Geier in den Lüften, eine alte Karawanserei mit schönem Klostergarten, elf Kilo- und siebenhundert Höhenmeter! Und der befürchtete Regen tritt erst fünfzehn Minuten vor Ende der Tour auf. Glück gehabt! Noch einmal die sagenhafte Gondelfahrt (wenn auch diesmal die Hälfte davon im Nebel verschwindet) und auf der Heimfahrt dasselbe Szenario wie am Vortag: keine Ahnung, wie die Umgebung aussieht. Und das Ganze wird nicht besser dadurch, dass ein vor uns fahrender LKW rabenschwarze Rauchwolken ausstößt.

Nicht schlimm, Adelina hat gekocht und das ungemütliche Wetter bleibt einfach draußen. Und kann sich jemand vorstellen, WIE gut sich bei diesem Wetter (und nach fünfeinhalb Monaten on the road) eine RICHTIG HEISSE DUSCHE und ein FROTTEEHANDTUCH anfühlen?

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Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Wio (Donnerstag, 18 September 2025 23:05)

    Treue Blogleser werden wie immer supermässig belohnt.DANKE !!

Digital findet ihr uns vielleicht bei Facebook?!

Wo wir wohnen ist nicht wichtig! Haltet unterwegs die Augen nach der 13 auf!!


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