DREIZEHN UNTERWEGS
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Auszeit 2025  ·  23. September 2025

Grenzgänger

Grenzen ausloten: dafür bietet der Süden Armeniens beste Voraussetzungen. Denn dieser schmale Zipfel ist von einigen politisch recht interessanten Gebieten rundum umschlossen. Aserbaidschan und das zu Aserbaidschan gehörende Konfliktgebiet Bergkarabach im Osten, Iran hauptsächlich im Süden und die aserbaidschanische Exklave Naxcivan im Westen. Außerdem wäre da noch, ebenfalls im Westen, die Türkei. In keines dieser Länder werden wir natürlich einreisen. Dazu wird zum Ersten leider (schluchz) die Zeit zu knapp, zum Zweiten gäbe es bei diesem Unternehmen diverse Schwierigkeiten. Aserbaidschan hält seit 2020 und Covid die Grenzen für Nicht-Aserbaidschaner geschlossen und es gibt keine Anzeichen, dass sich daran bald etwas ändern wird. Via Flugzeug nach Baku kann eingeflogen werden. Ist man mal drin, ist es wohl einfacher, auch auf dem Landweg wieder herauszukommen. Man erinnere sich an Münchner Martins Grenzübertritt auf Schusters Rappen. Die Türkei wiederum hält die Grenzen nach Armenien seit 1993 und dem Ersten Karabachkrieg geschlossen, um Aserbaidschan im Konflikt zu unterstützen. Und in den Iran (hier bräuchte es überdies ein Visum) oder Bergkarabach möchte man diverser politisch bedingter Gefahren wegen derzeit ohnehin nicht reisen. Wie schön wäre es (natürlich vor allem für die Einwohner dieser Länder), endlich Ruhe und Frieden in diesen schönen und gastfreundlichen Gegenden antreffen zu können…

Bevor wir uns auf den Weg machen, die sogenannte „Grenzgänger-Acht“ von Goris nach Goris (südwärts, westwärts, nordwärts – und noch ein kleines Stück nach Osten: die Grenzen und die bergige Region gibt die Route mit vor) zu befahren, überreicht uns Hotelbesitzerin Adelina unsere zwar saubere, leider aber nicht wirklich trockene Wäsche. Das neblig-kalte Wetter verzögerte den Prozess wohl erheblich. Aber: kein Problem, schließlich sind wir ja längst Profis und wissen, dass eine Wäscheleine im Zickzack durch den Wagenfond gespannt etliche Meter Aufhäng-Fläche generieren kann und kurze Zeit später gondelt eine fahrende Waschküche über den Tatew-Pass: die Weltrekord-Schwebebahn von unten bestaunen.

Und am Wegesrand die legendäre Teufelsbrücke besichtigen. Nicht mehr ganz so romantisch wie in alten Zeiten, denn die Lastwagen donnern auf der Asphaltstraße darüber hinweg. Trotzdem ist gut zu erkennen, dass der Worotan-Fluss sich an dieser Stelle lediglich einen engen  Durchgang durchs Gestein gegraben hat, durch den er mehrere Meter wie durch eine Höhle fließt (ein natürliches Viadukt sozusagen), um auf der anderen Seite in einer engen, zerklüfteten Klamm seinen Weg fortzusetzen. Eine Legende gibt´s an dieser Stelle gleich wieder dazu: vor Jahrhunderten waren die Einwohner des Dorfes Tatew auf der Flucht vor einer Rebellenarmee, wurden aber von den tosenden Fluten des Worotan gestoppt. Wie durch Geisterhand stürzte ein riesiger Felsblock aus den Bergen herab und schuf eine natürliche Brücke über den Fluss, worüber die Menschen entkommen konnten. Heute gibt es als Dreingabe zur Brücke ein kleines Treppchen, über das man auf der flussabwärts gewandten Seite der Teufelsbrücke in die Klamm einsteigen und deren skurril geformte Kalksteinwände bewundern kann. Und – wer ein wenig mehr Abenteuer braucht – von einem mittig der Klamm wartenden, unternehmungslustigen jungen Mann ein paar Meter auf den Boden der Schlucht abgeseilt werden kann, um dort eine Höhle zu besuchen. Ich denke: lassen wir dem Burschen seinen kleinen Verdienst (denn mit ein wenig Kenntnis wäre der Ab- und Aufstieg auch ohne Gurt zu bewältigen gewesen) und kraxeln angeschnallt die Wand hinunter. Um uns den Gurt wieder abzunehmen, huscht der Jungunternehmer in Windeseile ohne jedes Hilfsmittel die Wand hinunter, um uns anschließend noch den Weg zur Höhle zu zeigen. Schuhe aus, denn hier steht das Wasser kniehoch. Ziemlich warmes Wasser übrigens und der Grund ist schnell klar. An etlichen Stellen drückt sich das bekannte Sulfat-Mineralwasser aus den Felsen, plätschert die Wände hinab und sammelt sich in verschiedenen, schneeweisen und terrassenförmig angeordneten Kalksteinbecken. Wie die berühmten Pools des türkischen Pamukkale, nur kleiner und unterirdisch! Der mitgeführte Kalk hat in dieser Höhle übrigens die bizarrsten Kalkformationen gebastelt: wie eine überdimensionale Sahnetorte! Was für ein Fund am Wegesrand! Im Außengelände gibt´s als Dreingabe noch ein paar üppig umwucherte, grün funkelnde Naturteiche: Froschkönigs Paradies! Und hoch über der Worotan-Schlucht schießen ein paar Adranalin-Junkies im Zickzack via Zipline durch die Lüfte. 

Bei der weiteren Fahrt Richtung Süden und iranische Grenze muss gut aufgepasst werden, dass die richtigen Abzweigungen erwischt werden – ansonsten stünde man in Nullkommanichts direkt an der aserbaidschanischen Grenze. Diesmal weist uns Google jedoch vorbildlich den Weg, wir passieren die Kupferabbau-Stadt Kapan und einen irreal karibisch-grünen See. Dessen Ursprung überhaupt nicht natürlich ist – siehe vorheriger Satz: Kupferabbau! Denn auch hier wird das Kupfer mittels Chemikalien aus dem Berg gespült und die leuchtend blauen und grauen Schlieren auf dem Gewässer erinnern unbehaglich an das rumänische Geamana und seinen Katastrophen-See. Unterschied: hier sieht es zumindest so aus, als würde die Schlacke in einem sicheren Becken aufgefangen, das hoffentlich keinen Zugang zum Grundwasser hat.

Gegenüber Kapans auf den Berghängen entdecken wir die im Wind wehende aserbaidschanische Flagge. Wir schrauben uns in die dicht bewaldeten Hügel hinauf, die Verkehrswege sind hier merklich schlechter. Aufgebrochener und zusammengeschobener Asphalt: die beinahe anstrengendste Art Straßenbelag! Immer wieder militärische Präsenz: Fahrzeuge und Soldaten behalten das Geschehen gut im Auge – und grüßen die vorbeigondelnden Camper-Insassen stets freundlich. Die gewohnten uralten Baumaschinen kreuzen unseren Weg. An einer Böschung winken uns drei Leutchen und zeigen stolz nach Osten: ganz hinten in einem weit entfernten Sonnenfleck beginnt der Iran, unter unseren Füßen Armenien, dazwischen Aserbaidschan und vielleicht noch Bergkarabach. 

Wieder freundliches Abschiedswinken und schon kreisen über uns neuartige Greife: Bartgeier sind es diesmal und an den Straßenrändern weisen mehrere übergroße Schilder stolz auf das Vorkommen (eines?) Leoparden in diesem Gebiet hin. Wir befinden uns nämlich inzwischen im Shikahogh Reservat, in dem es außer dem prestige-trächtigen Leoparden  Bären, Bezoarziegen, Luchse und diverse Raubvögel geben soll. Wir indessen sehen erstmal nicht allzu viel von der spannenden Tierwelt. Denn das sich dschungelartig bis zum Horizont erstreckende dicht bewaldete Gebiet wird plötzlich von Nebelschwaden überwabert, die jedes Geräusch und jede Sicht schlucken. Die bestens bekannte Herbststimmung kommt auf und so suchen wir uns am Rande einer kleinen Klamm ein nettes (hoffentlich, wir sehen ja nicht viel) Schlafplätzchen. Die unterhalb des Platzes aufgefundenen Knochenreste schrecken uns nicht: die KI vermutet eine klassische Wolf-Schaf-Konstellation. Und während im Inneren der tapferen „13“ die Heizung bullert (Ihr wisst ja: Wäsche trocknen!) werden draußen die obligatorischen Spaghetti gekocht. Beinahe gleichzeitig sind Nudeln verspeist, Wäsche trocken und der Regen setzt ein (oder ist es nur besonders dicker Nebel?): was für eine Punktlandung! Und immerhin: die lautlos vorbeischwebende Eule entdeckt Jürgen trotz der undurchsichtigen Suppe!

Zum Frühstück ist die Sicht immerhin so klar, dass vor allem Jürgen seine helle Freude an einer direkt gegenüber des Esstisches heimischen Wespenspinne hat, die eifrig ihr Radnetz neu aufbaut. 

 Zudem fällt mir bei der (eher seltenen) Konsultation des Kalenders Folgendes auf: die für Armenien benötigte Extra-Versicherungspolice läuft am Montag aus. Heute ist Freitag und unsere ursprüngliche Planung sah seinerzeit kein Problem darin, innerhalb dieser Zeit wieder auszureisen. Aber was sind schon Pläne? Und wer hätte auch nur annähernd so viel Schönheit und Faszination in diesem Land erwartet? Und wie kann man darüber nicht die Zeit vergessen? Immerhin,  fällt mir ein, wir befinden uns ja ohnehin auf dem Weg Richtung Grenze, wenn auch der iranischen. Und was kann an allen armenischen Grenzen gekauft werden? Richtig: die gewünschte Versicherung! Gut, denke ich, dass wir nun einen Grund haben, zumindest einen sehr grenznahen Blick in den Iran zu werfen und einen Eindruck zu bekommen! Los geht´s also durch nebeldurchzogene Urwaldlandschaft. Fleißig streichen Bauarbeiter die Leitplanken neu und hoch über den steilen Abhängen thront ein geschmückter Weihnachtsbaum?!

Je näher wir der südlichen Kante Armeniens und dem mächtigen grünen Grenzfluss Aras kommen, umso mehr weicht der Dschungel einer gelblichen, wüstenartigen Felslandschaft mit hoch aufgeschichteten Steintürmen. Im Flusstal saftiges Grün, Obstplantagen aus Feigen- und Granatapfelbäumen ziehen sich am Ufer entlang, gegenüber im Iran zackige, zerklüftete Berglandschaften und ein Dorf mit Häusern die, ja, irgendwie „iranisch“ aussehen. Fremde Welten gleich Visasvis! Und ein bisschen Fernweh! Wie schön wäre es, wenn..? Nein, diesmal nicht.

Wir entdecken einen verfallenen Bahnhof am Wegesrand und halten an. Uralte, längst zerstörte Pracht in den prächtig gefliesten, säulengetragenen Hallen, davor die verrosteten Lokomotiven, Baumaschinen und Personenwägen. Mittendrin eine zwar nicht mehr intakte, aber sehr deutlich an Sowjetzeiten erinnernde Statue einer jungen Pionierin, kraftvoll und energisch, aber mit halb abgebrochenem Arm in die Ferne weisend. Weiter fahren wir am stacheldrahtbewehrten Grenzzaun, dahinter der rauschende Aras, noch mehr dahinter der Iran! Kurzer Halt an einem Grenzhäuschen: zwei mehr als junge Bübchen mit Gewehren auf den Schultern sind hilfsbereit, können aber kein Englisch. Die Übersetzungs-App bringt Erleuchtung: zur Grenze nach links! Und grinsend, mit Blick auf die Kajaks auf dem Dach grüßen sie uns hinterher. 

Genau an dieser Stelle – und nirgends anders – wird hier und heute beschlossen, ist der Wendepunkt unserer großen Reise! Noch weiter bewegen wir uns nicht von zu Hause weg und jeder ab hier gefahrene Kilometer bringt uns wieder näher an unsere Heimat, näher an Bietigheim heran. Bei gerader Linie wären es von hier, von der armenisch-iranischen Grenze aus knappe viertausend Kilometer. Die wir mit ziemlicher Sicherheit nicht so bolzgerade durchfahren, wie Google es vorschlägt! Und zu diesem wichtigen Anlass wird eine Haferflockenpackung zerrissen und mit der wichtigen Botschaft versehen: „Point of return -4000 kilometers from home“, damit auch der Rest der Welt weiß, dass wir uns nun auf dem „Heimweg“ befinden! Bevor wir diesen jedoch antreten, steht ja noch der Besuch im Versicherungs-Häusle an, um uns für zehn Euro ein paar weitere Tage Armenien zu erkaufen. Und hier treffen wir auf einen akribischen, beinahe schon schwäbischen Versicherungsagenten. Unser zuvor gekauftes, nachlässig zusammengefaltetes und etwas mitgenommen wirkendes Dokument streicht er mehrfach energisch glatt. Erst dann darf sein schönes, frisch ausgedrucktes neues Papier dazu gelegt werden. Genauestens wird überprüft, ob alles genau Kante auf Kante liegt, bevor es liebevoll zusammengetackert und in eine Prospekthülle (!) gesteckt wird. Kein Falten und Knicken mehr erlaubt! Was wir uns nach dieser Prozedur niemals mehr trauen würden! Bestens präpariert gondeln wir also nordwärts zurück ins karge Gebirge, die LKW-Strecke Richtung Jerewan entlang. Hier wird fleißig gebaut, kein Wunder, der Güterverkehr braucht Platz und die Straße ist sichtlich mitgenommen von den schweren Trucks.

Über uns wieder ein neuer Greif: ein heller Adlerbussard! Ziemlich grenznah noch durchqueren wir die wuselige und lebendige Stadt Meghri mit ihrer Festung hoch oben in den Felszacken und schießen ein weiteres „Alte-Klöster-Foto“. Diesmal die Hovhannes-Kirche. 

Und wo wollen wir heute schlafen? Auf jeden Fall nicht in der Nähe der kilometerlangen Baustelle! Also wird nach rechts in die karstigen Berge (und in neue Nebelfelder, diesmal aber durchsetzt von Sonnenflecken) abgebogen und alsbald finden wir auf einem flachen Plateau mitten im Arevik Nationalpark einen mal wieder sehr entzückenden Platz mit (theoretischem) Blick auf den knapp 2300 Meter hohen Tshmasar. Unter uns das Dörfchen Vank. Rund um uns die Nebelshow – später in der Dunkelheit dient die Nebelwand als erstklassige Projektionsfläche für Schattentheater, so undurchdringlich ist sie. 

Mal kommen die Schwaden, mal treibt sie der Wind davon und die grandiose Berglandschaft taucht für kurze Zeit auf. Wir erkunden die Gegend auf einem kleinen Spaziergang und entdecken robuste, knorkelige Flaum-Eichen und Wildbirnenbäume, die einen guten Eindruck einer rauen, sturmgepeitschten Region mit kurzen Sommern vermitteln. Und was ist übrigens Jürgens kulinarisches Highlight Armeniens? Das milimeterdünne, am laufenden Meter verkaufte Lavash-Brot. Die Spiegeleireste können damit wie mit einem Putzlappen aus der Pfanne gewischt werden, außerdem passt, ordentlich zusammengeknüllt, ein knapper Quadratmeter davon auf einmal in den Mund! Ein weiteres Objekt aus der Kategorie „Was werden wir am meisten vermissen?“ kommt auf die Liste!

Was steht noch drauf? Jeden Tag eine andere Aussicht aus dem Schlafzimmerfenster zu haben! Heute mit Schnee auf den Berggipfeln, der gestern bestimmt noch nicht dort war, da sind wir uns sicher, trotz der vernebelten Sicht! Heute aber, trotz Kälte, endlich wieder Sonnenschein! Also schnüren wir unser Rucksäckle und mit stündlich angenehmeren Temperaturen geht´s hinauf in Areviks Bergwelt. Ziel: Mount Tshasmar mit seiner charakteristischen zerklüfteten Felsspitze.

Unterwegs treffen wir auf einige sehr dekorative Stern-Agamen, die sich über die wärmende Sonne genauso freuen wie wir. Außerdem auf neue Sanddornbüsche und einen säuberlich abgenagten Hüftknochen! Wieder ein Huftier, eventuell Ziege oder Schaf, behauptet Hermine (aka ChatGPT). Vermutlich war abermals der Wolf am Werk. Oder der viel gerühmte Leopard, immerhin konnten wir an den Straßenrändern rund um Meghri ein deutlich erhöhtes Aufkommen der „Hier streunt ein Leopard“-Schilder feststellen.

In Google Maps, entdecken wir auf dem Rückweg der Gipfelbesteigung mit herrlichem Blick über das Naturreservat, wird ebenfalls Werbung gemacht. Allerdings nicht für die gefleckte Großkatze, sondern für „Best Lavash Bakery!“ (mit keiner einzigen Bewertung) und sofort beginnen Jürgens Augen zu leuchten. Obwohl keiner von uns beiden daran glaubt, mitten in dieser einsamen Berggegend in einem Zwölf-Hüttchen-Dorf eine Bäckerei vorzufinden. Aber wer weiß? Und liegt ja ohnehin auf dem Weg. Zugewucherte Gässchen, schmale Pfade zwischen eher provisorisch wirkenden Behausungen und (Überraschung!) kein Lavash, sondern ein gemauertes Haus, das als Kirche dient und besichtigt werden kann (heute tragen wir keine kurzen Hosen). Also machen wir das, kochen, zurück am Auto, Eintopf aus allen vorhandenen Resten (die da wären: Spaghetti mit Gemüse-Rest, Reis, rote Linsen, Dosentomaten und Würstchen), was bestens wärmt. Trotzdem flüchten wir nach spektakulärer Sonnenuntergangs-Vorführung schnell ins kuschelige Auto: fühlt sich an wie Winter! 

Die auf dreizehn (!) Grad gestellte Heizung springt nachts tatsächlich mehrfach an und schon am nächsten Tag ist April. Auf jeden Fall benimmt sich das armenische Wetter so, als wär´s schon soweit. Dichte Wolkendecke, kurz täuscht die Sonne an, dann fängt es an zu regnen, die Temperatur stürzt merklich ab und dann kommt der Graupel. Genug gefrühstückt, wird entschieden, wir fahren unsere „Grenzgänger-Acht“ Richtung Norden weiter. Kurzer Stopp am Straßenrand: ein armenisches Paar muss uns einige Äpfel schenken. Und es regnet uns den Meghri- und den Tashtun-Pass hinauf und wieder hinunter, nur noch zweikommafünf Grad und undurchdringliche Nebelbänke begleiten uns. Und wenn sie mal aufreißen? Weiß überzuckerte Berggipfel. Bei Kadscharan wacht eine Bärenstatue mit Schlüssel im Maul auf einer Klippe: ein Zeichen für Stärke und Unabhängigkeit. Wir scheren bei Kapan wieder auf bekannte Straßen, halten kurz am Supermarkt an und der Kassierer packt seinen vielleicht einzigen deutschen Satz aus: „Es regnet.“ Stimmt! Die Innenstadt von Kapan wiederum ist neu für uns, mittendurch fließt der froschgrüne Voghji, entlang der durch den Ort führenden Hauptstraße sind die Verkaufsflächen einheitlich angeordnet. Zuerst alles, was irgendwie mit Kraftfahrzeugen zu tun hat: Autoteileshops, Waschstraßen, Werkstätten, über etliche Kilometer hinweg. Gefolgt von der Blumenmeile?!? Mindestens dreißig Blumengeschäfte (künstliche und echte Ware) in einer Reihe, dazwischen ein paar einsame Klamottenbüdchen. Nach Tatev (die Weltrekordbahn ist im Nebel kaum zu entdecken) kratzen wir knapp an Goris vorbei und haben die „Grenzgänger-Acht“ somit vollendet. Trotzdem sind die Grenzbeschreitungen noch nicht vorbei, denn hier wechseln wir von aserbaidschanischer Grenze Nummer 1 zu aserbaidschanischer Grenze Nummer 2. Heißt, wir lassen die östliche Grenze nach Aserbaidschan hinter uns um bald darauf westlich an der Grenze zur Exklave Naxcivan  entlangzuschrammen.

Und schon kehrt die faszinierende Cowboylandschaft (und ein wenig Sonne) zurück. Jermuk und der Vulkanberg Vayots Sar bleiben zu unserer Linken zurück, ab Jeghegnadsor (Halt an nettem kleinem Restaurant mit Dinner für zwanzig Euro!) werden die in der Landschaft aufgeschichteten Felstürme und -wände inmitten der gelben Steppenlandschaft immer rötlicher und rücken deutlich enger zusammen. Schluchtartige Wände ragen über den Straßen auf. Noch enger und farbiger wird das Ganze in der Anfahrt zum berühmten Kloster Norawank: dunkelrot, rosa, ziegelrot und rostfarben die Steinwelt rundherum, noch dazu durchlöchert von allerlei Höhlen. Und der absolute Höhepunkt: mitten in dieser wilden, surreal gefärbten Landschaft das Kloster aus dem dreizehnten Jahrhundert, ebenfalls aus rotem Gestein vor einer Kulisse aus steilen Klippen. Obwohl wir schon einige der vielen armenischen Kirchen besichtigt haben: diese hier toppt noch einmal alles! Und um das Ganze noch spektakulärer zu machen: extra für den Sonnenuntergang reißen die Wolken noch einmal auf, woraufhin die Felswände von einer Sekunde zur anderen in den leuchtendsten Rottönen zu strahlen beginnen. Hierfür ist dieser Ort berühmt und ja: völlig zu Recht! Weil wir von Cowboylandschaft und roten Canyons noch nicht genug haben, suchen und finden wir einen Schlafplatz hoch auf den Klippen. Und hinter den Bergen natürlich eine Grenze: die nach Naxcivan.

Der wir auch am nächsten Tag noch folgen und zwar immer nordwärts. Am Wegesrand entdecken wir „Areni 1“, eine Karsthöhle im roten Felsgestein nahe der gleichnamigen Stadt, in der sich der angeblich älteste Weinkeller der Welt befindet. Und mit diesem Thema befinden sich die Länder Armenien und Georgien in einer mal mehr, mal weniger freundschaftlichen Konkurrenz, denn beide Nationen möchten sich gerne auf die Fahnen schreiben, die älteste „Wein-igendwas“-Tradition zu haben. Fakten? Georgien, das sich gerne als „Die Wiege des Weins“ bezeichnet, bestreitet zwar die armenischen Funde, den etwa viertausend Jahre alten Weinkeller mit seiner strukturierten Anlage aus Tretbecken, Gärgefäßen und Lagerkrügen, nicht. Gleichwohl wird aber gerne betont, selbst eine über achttausend Jahre alte Weintradition zu besitzen, bewiesen durch Weinspuren in bis zu sechstausend Jahre alten Tongefäßen. Wobei es sich eben nicht um komplette Produktionsstätten, sondern eben um Rückstände in der Keramik handelt. Offiziell wird natürlich darauf hingewiesen, dass der gesamte Kaukasus ein einzigartiges Zentrum des Weinursprungs sei und beide Länder setzen ihre „Wein-Claims“ gezielt ein: entweder mit dem Slogan „8000 Jahre ununterbrochene Weintradition“ oder „Heimat des ältesten Weinkellers der Welt.“ Immerhin, in beiden Ländern ist der Weinbau noch eine lebendige Sache. Auch hier gibt es nicht nur ein paar staubige Relikte, sondern unzählige sehr professionell wirkende Wine-Tasting-Shops neben den üblichen Büdchen am Straßenrand, in denen (gerne von alten Mütterchen) Rot- und Weißwein – und auch Schnaps – in den ebenfalls üblichen stillosen Coca Cola- oder Fantaflaschen verkauft wird. Mein Reiseführer behauptet, das geschähe aus dem Grund, damit iranische LKW-Fahrer Wein unerkannt an den Zöllnern vorbei ins Heimatland schmuggeln können. Doch das kann ich nicht so recht glauben. Denn hier wird grundsätzlich ALLES in Plastikflaschen verkauft, nicht nur Alkoholika: eingelegte Peperoni, Kompott, Tomatensoße und gerne auch Honig – in ehemaligen Einweg-Wasser-Kanistern mit bis zu fünf Litern Fassungsvermögen! 

Und mit dieser Aussicht am Straßenrand gondeln wir noch einmal rückwärts durch die endlose gelbe und rote Wildwest-Hügel- und Felslandschaft mit ihren fruchtbaren, grünen Tälern, die uns schon auf dem Hinweg fasziniert hat: und – ja! – man KANN einfach nicht genug davon bekommen. Ist das Ganze noch zu toppen? Ja, ist es! Denn nach Überfahren einer Kuppe taucht er plötzlich auf: der Ararat! Jenseits einer gigantischen flachen Ebene (wohlgemerkt, auch diese auf etwa 1800 Metern Höhe) ragt er 5137 Meter bis in die Wolken auf! Der höchste Berg, den wir je gesehen haben! Ein ehemaliger Vulkan, der tatsächlich 1840 das letzte Mal ausbrach, also noch gar nicht sooo lange her! Außerdem soll, wie bekannt, nach der biblischen Sintflut die Arche Noah auf seinem Gipfel gestrandet sein. Doch davon ist heute nichts mehr zu sehen. Und obwohl der Ararat seit 1915 (und nach dem furchtbaren Völkermord an den Armeniern) in der Türkei liegt, trägt Armenien den Berg bis heute in seinem Wappen. Die Türkei protestierte gegen diese Abbildung wohl mit der Begründung, dass der Berg auf türkischem Gebiet liege, worauf der damalige sowjetische Außenminister mit dem Hinweis konterte, dass im Gegensatz dazu die Türkei ja auch eine Mondsichel in der Flagge führe, obwohl weder der Mond noch Teile davon zur Türkei gehörten. Seitdem ist wohl (zumindest in dieser Hinsicht) Ruhe.

Einen Extra-Aussichtsplatz mit Himmelsleiter gibt´s hier oben noch dazu, ein russisches Paar auf Reisen verschenkt Weintrauben und kurz darauf schrauben wir uns mit herrlichen Ausblicken in die Hochebene hinunter.

An einer Tankstelle stehen tatsächlich gleich zwei (!!!) Kanister AdBlue! Monatelang nicht zu bekommen und quasi den gefühlt letzten Kanister des ganzen Kaukasus kurz vor der armenischen Grenze ergattert herrscht hier plötzlich ein gnadenloser Überschuss! Fast sind wir ein bisschen traurig, dass wir diesen Glücksfund überhaupt nicht mehr benötigen und lassen ihn für andere verzweifelte Reisende zurück. Auch andere Dinge gibt es in der Ararat-Hochebene zuhauf: immens fruchtbar wächst hier natürlich der berühmte armenische Wein, aber auch sonstige Gewächse fühlen sich hier wohl. Allerdings streng getrennt. Zumindest vermitteln das die Verkaufsflächen entlang der Landstraße. Kilometerweit die bewussten eingelegte Peperoni in Plastikflaschen, Honig und Pfirsiche. Eine immense Konkurrenz, denke ich. Abgelöst wird das Ganze irgendwann durch Äpfel in rauen Mengen, später folgt anscheinend Wassermelonien. Endlose Buden oder auch gleich ganze LKW-Anhänger voller fußballgroßer und liebevollst gestapelter Melonen. Dazwischen kurven mit Weintauben völlig überladenen uralte Sowjet-Trucks und ein in den Federn hängender Transporter mit gartenhüttengroßen Steinblöcken auf der Ladefläche. 

Wir biegen Richtung Ararat ab, um das Kloster Khor Virap nicht zu verpassen. Besonderheit hier: die unglaubliche Kulisse des Großen und des Kleinen Ararat! Bevor wir jedoch so weit kommen fällt, in Sichtweite zum Kloster, ein (zumindest für uns) sehr ungewöhnlicher und auffälliger Friedhof auf. Mehrere Quadratmeter große, sehr prunkvolle Grabanlagen mit lebens- oder sogar überlebensgroßen Bildnissen oder sogar Statuen der Verstorbenen, zum Teil kunterbunt. Manchmal sind die Menschen in Uniform oder sogar mit Gewehr abgebildet. Wir finden nicht so richtig heraus, ob es sich hier um Gefallene, Märtyrer oder „nur“ um  armenische Erinnerungskultur  handelt. Weniger feierlich geht es auf dem Parkplatz der Klosteranlage zu: nicht nur die obligatorischen Souvenirstände mit begeisterten Chinesen davor („diesen Nepp können sie auch gleich direkt in China kaufen“ mault Jürgen), sondern auch drei Vogelkäfige mit weißen Tauben drin stehen herum. Gleich spricht mich ein motivierter Verkäufer an: ob ich für ein paar Dram ein Foto haben möchte, in den ich vor der Klosterkulisse eine Taube in den blauen Himmel fliegen lasse? Ich muss nicht wirklich überlegen: Nein! Der Klosterkomplex aus rötlichem Stein vor dem beeindruckenden, wolkenverhangenen Ararat ist dagegen natürlich wirklich eine Sensation! Und damit beenden wir vorerst unseren armenischen Grenzgang mit grandiosem Ausblick hinüber in die Türkei! 

Den Garni Canyon Richtung Nordosten durchqueren wir zügig (Sightseeing erst morgen), schießen nicht als einzige ein Bild vom graugrünen Azat-Reservoir mit biblischem Berg (insta-Fotospot für Hochzeitspaare und Cadillacfahrer?!) und landen plötzlich (zumindest kommt es uns so vor) in Mitteleuropa auf dem Campingplatz! Geführt von Sandra aus den Niederlanden herrscht hier plötzlich sehr europäischer Standard: heiße Duschen, wackelfreie Armarturen, nirgendwo herumbaumelnde Kabel! Und das ist nicht alles! Einige Bayern, Schweizer und Österreicher (Wiedersehen mit Herta und Günther aus Mestia!) mit Abenteuer-Bussen und vielen Reisegeschichten (Marokko! Wir planen schon mal!) sind ebenfalls anwesend und: kein Wunder, dass der Abend SEHR lange und gemütlich wird!

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Kommentare: 1
  • #1

    Bettina (Dienstag, 23 September 2025 23:10)

    Hach, so toll geschrieben liebe Laila und immer Mega schöne eindrückliche Fotos dazu! Wollt ihr den Blog nicht in ein Buch umwandeln lassen, zuhause!?
    Viele liebe Grüße und einen stets mit schönen und vielen Eindrücken gefüllten „Rückweg“ (der sich natürlich noch überhaupt gar nicht danach anfühlen soll) �

Digital findet ihr uns vielleicht bei Facebook?!

Wo wir wohnen ist nicht wichtig! Haltet unterwegs die Augen nach der 13 auf!!


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