„If you liked Kackar, you will love Hakkari“, diese Worte von Englischlehrer Eryüp vom Zeze-Camping klingen uns auch nahezu drei Monate später noch im Ohr, als sich morgens eine Traumlandschaft zu unseren Füßen ausbreitet, die wie ein Gemälde wirkt. Weiche, herbstlich goldgelbe Hügelketten; malerische aufgeschichtete Heuschober inklusive grob gezimmerter Holzleitern; ein Bächlein mäandert durch die Szenerie; bunt belaubte Bäume an seinem Ufer; Schafherden und Hirten mit gebogenen Hirtenstäben; schwer beladenen Esel mit Reitern obendrauf… wäre das Ganze – wie oben erwähnt – wirklich ein Gemälde wäre es purer Kitsch! Aber hier ist es reine, beinahe surreale Wirklichkeit. Und ja – ich glaube, wir lieben die Gegend jetzt schon, obwohl wir genaugenommen überhaupt noch nicht im „echten Hakkari“ angekommen sind. Unsere beschaulichen Hügel sind nur Vorgeplänkel, bevor wir die RICHTIGE Wildnis im Dreiländereck Türkei-Iran-Irak kennenlernen. Oder sollte man es lieber „Vierländereck“ nennen? Denn faktisch stellt die kurdische Minderheit hier den größten Bevölkerungsanteil, was trotzdem bis heute nicht dazu geführt hat, dass sie sich vollständig akzeptiert und in ihren Rechten wahrgenommen sehen. In den Neunzigern gab es in diesen Regionen schlimme, verlustreiche Kämpfe, nahezu jede Familie war irgendwie davon betroffen – immer noch ist die Beziehung zwischen Kurden und Türken mehr als schwierig. Viel Militär- und Polizeipräsenz sprechen nach wie vor eine deutliche Sprache…
Hier oben in unserer Idylle ist von diesen Unruhen nichts zu spüren. Dafür -wer hätte es geahnt – gibt es nur ein paar Wanderkilometer entfernt eine kleine Sensation, die den Vergleich mit dem türkischen Touristenmagnet Pamukkale nicht zu scheuen braucht. Schneeweiße Kalksteinterrassen, Schwefelquellen, blubberndes Mineralwasser steigt aus den Tiefen auf, skurrile Felsformationen!
Na gut, nicht ganz so groß wie das berühmte Vorbild, dafür völlig frei von weiteren Besuchern. Ob auf Grund der Tatsache, dass das Naturschauspiel nur zu Fuß erreichbar ist oder wegen seiner Lage am Ende der Welt sei mal dahingestellt. Wegen des Schwefelwassergeschmacks muss man jedenfalls nicht herkommen: hier verkoste ich die höchste je erlebte Konzentration an Schwefel in Wasser! In kleineren Dosen ist das Blubberwasser ja durchaus interessant (und soll ja auch gesund sein -fragt nur mal Aurelius), aber dieses hier bietet des Guten zu viel! Schon der Geruch ist einzigartig und weist den Weg zu einem glasklaren, wild blubbernden Tümpel. Nur gut, dass sich aus den umliegenden Hügeln weitere Bächlein zur Schwefelquelle gesellen, sich mischen und deutlich weniger streng riechend über die Kalksteinterrassen fließen.
Einem dieser Bachläufe folgen wir anschließend hügelaufwärts und entdecken eine „Teufelsbrücke“ ähnlich der von Tatew (nur in kleinerem Maßstab): auch hier hat sich das Wasser durchs Gestein gegraben und ein natürliches Viadukt geschaffen. Kleine Agamen, Eidechsen, Steppenadler und die allgegenwärtigen, am liebsten zu Fuß flüchtenden Chukhar-Hühner kreuzen unseren Weg.
Und später – zurück am Platz – ein Esel, geritten von einem etwa zwölfjährigen Hirten-Gehilfen. Genaugenommen ritt er vermutlich neugierig den Hügel hinauf, nur um mal zu schauen, was für seltsame Leute dort oben campieren. Denn Kühe, Schafe und Chef-Hirte weilen immer noch unten im Tal. Kaum unserer ansichtig, verlässt ihn offensichtlich der Mut und möglichst unauffällig versucht er, an uns vorbeizureiten. Für mich eine günstige Gelegenheit: Kollegin Snjezana wünschte mir damals zum Abschied einen Eselsritt. Und wo, wenn nicht in der hintersten Ecke Anatoliens, soll sich dieser Wunsch nun erfüllen. Englisch wird von dem jungen Mann nicht besonders gut verstanden (oder, wie so oft, traut er sich einfach nicht), Zeichensprache dafür umso besser. Und ruckzuck (wenn auch nicht besonders elegant) komme ich auf dem Eselsrücken neben all dem Hirtengepäck zum Sitzen. Und so zockeln wir einmal um den Camper herum und haben unseren Spaß. Wenn das Eselchen ebenfalls Spaß hat, weiß es das gut zu verstecken. Jürgen entlohnt das Hirtenteam mit hundert Lira – etwa drei Euro und kurz darauf taucht auch der Rest der Herde auf: Kühe, Schafe und der Vater des Jungen. Brühwarm wird ihm wohl von meiner professionellen Reit-Einlage berichtet (es ist übrigens Hirte Nummer eins von gestern) und nun möchte er auch ein wenig Unterhaltungsprogramm haben. Zuerst soll ich nochmal auf den Esel, der übrigens auf den Namen Jako hört – oder nicht hört, denn den neuerlichen Rundgang absolviert er mit klischeehaftem Widerwillen. Danach wird auch Jürgen zum Aufsitzen aufgefordert, seine Gewichtsklasse passt nicht so recht zum zierlichen Eselchen, der Hirtenvater winkt lässig ab und hat keine Bedenken ob des Gewichts. Der Sohnemann kichert haltlos in seinen Schal. Trotzdem sitzt Jürgen schnell wieder ab, das Tierchen hat genug geleistet und fröhlich winkend verschwindet der ganze Tross über den Hügel. Kleines Nachspiel: am sehr frühen nächsten Morgen erscheint ein kleinerer, dem ersten Hirtenjungen jedoch sehr ähnlich sehender Sprössling auf Esel Jako am Rande unseres Camps: offensichtlich der jüngere Bruder, wahrscheinlich motiviert von der Aussicht auf Unterhaltungsprogramm und Entlohnung. Leider stehe ich gerade im Duschzelt und Jürgen möchte das Eselchen nicht noch einmal malträtieren. Trotzdem tut´s mir ein wenig leid für das Bürschchen, denn nach Beendigung der Dusche ist er nicht mehr da. Unten im Tal sieht man ihn mit seinem Bruder auf dem Esel um die Wette reiten…
Schon die Fahrt Richtung Hakkari ist spektakulär: die Straße führt uns entlang des grünen Cigli Suyo Stream, hoch aufschießende Bergzacken säumen sein Ufer, an einigen Stellen kann in der engen Schlucht fast der blaue Himmel nicht mehr entdeckt werden. Links geht´s in den Iran, wir biegen jedoch rechts ab und landen nach etlichen Kilometern Einsamkeit, maximal unterbrochen vom ein oder anderen ärmlich wirkenden Bauernhäuschen (überall wird Kohle in Säcken für den harten Winter angeliefert) in der gefühlt einzigen „echten“ Stadt der gesamten Region.
Hakkaris Häuser schmiegen sich in die Mulde eines gigantischen Talkessels, in alle Richtungen von schroffen Berghängen und Gipfeln umgeben. Der Reiseführer berichtet von einem „Hausberg“ und ich bin ein wenig überfordert von der Aufgabe, unter den vielen Gipfeln einen „Hausberg“ zu identifizieren. Wer hier wohnt und seine Geschäfte zu Fuß erledigen muss, hat´s auch nicht leicht, denke ich. Denn die Ortschaft erstreckt sich über etwa vierhundert Höhenmeter an den Bergflanken entlang. Das könnte ein Grund für die immense Anzahl an Lebensmittelmärkten im Stadtgebiet sein. Auch für uns gut, denn so haben wir reichlich Auswahl an Einkaufsmöglichkeiten. Immerhin sind wir auf dem Weg in die Wildnis! Zuerst geht´s jedoch wieder zurück und bergab – der Ort Hakkari ist nämlich eine Sackgasse.
Ein weiterer Militärposten wird passiert, hier müssen wir tatsächlich ein Dokument unterschreiben, um weiterfahren zu dürfen. Hauptsächlich geht´s hier um Eigenverantwortung bei der Besichtigung des Gletschers, der auf keinen Fall (!) begangen werden darf. Was wir nicht vorhaben, so ganz ohne geeignetes Equipment. Und kaum haben wir den Posten hinter uns gelassen, beginnt die wilde Bergwelt so richtig! Habe ich eingangs schon von den imposanten Gipfelzacken geschwärmt, war das noch nichts gegen das, was uns jetzt erwartet. Wir kurven eine enge Kiesstraße bergauf, gesäumt von Dutzenden (oder sogar hunderten) Walnussbäumen, ein paar Häuschen, die obligatorischen Chukhar-Hühner und Greife, zottelige, anatolische Bergziegen am Wegesrand und dann tauchen die Berge auf! Und was für welche! Senkrechte Wände bis zum Himmel, wild gezackt in einem Kreis um uns herum. Und es nimmt kein Ende! Hinter jeder Bergkette taucht eine neue auf und wir fühlen uns klein wie Staubkörnchen in dieser großartigen Felsenwelt. Ein Wasserfall rauscht die Klippen hinunter, der natürlich besichtigt werden muss.
Ein silberner, eher nicht Offroad geeigneter Peugeot hält neben uns an: die beiden Herren darin ebenfalls auf Sightseeing-Tour am Wasserfall. Sie stellen sich freundlich vor und schenken uns ein paar am Boden aufgesammelte Walnüsse. Wohin wir wollen? wird gestikuliert. Und offenbar haben alle das gleiche Ziel: das Ende des Cennet Cehennem Tals. Allerdings unter verschiedenen Voraussetzungen, denn während die tapfere „13“ die schotterigen, steilen Pisten mit Links erklettert (da haben wir doch schon Schlimmeres erlebt!) bleibt der Peugeot mehrfach stecken, muss erneut Anlauf nehmen, rast mit heulendem Motor und Staubwolken bis zu den Bergspitzen aufwirbelnd die Anstiege hinauf. Aber alle Achtung: die Mission „Gletscherblick“ wird zielgerichtet weiterverfolgt. Einmal drehen wir um, weil sich unter uns nichts mehr bewegt und wir nicht sicher sind, ob sie ihr Fahrzeug nun doch kaputt gemacht haben. „Problem!“ fuchtelt der Ältere der beiden, während der jüngere die Reifen in der Rinne, in die er sich festgefahren hat, wild durchdrehen lässt. Doch bevor noch alternative Lösungswege gefunden werden können, schafft er es doch wieder raus. Und den Berg hinauf, das Ziel ist klar! Und tatsächlich: nicht lange danach entern wir alle das Plateau mit Gletscherblick und fröhlich plätscherndem Bächlein.
Tausende von helllila Herbstzeitlosen blühen an den Hängen, das Ganze umgeben von einem Kreis schroffer Gipfel. Mit ihren Picknick-Plastiktüten bepackt (in der Türkei sind Rucksäcke überflüssiger Schnickschnack) winken sie uns zu: ob wir gleich mit Richtung Gletscher wandern wollen? Heute nicht mehr, wir richten uns erstmal ein und genießen das Bergspektakel von hier aus.
Bis wir damit fertig sind (und gekocht haben) sind unsere neuen Freunde wieder zurück und leisten uns Gesellschaft. Tee, Pistazien, Nüsse und Äpfel verteilen sie großzügig auf unserem Tisch. Nun wird gemeinsam weiter gepicknickt. Der ältere der beiden probiert von Jürgens Teller. „Potatoe“, stellt er zufrieden fest. Offensichtlich hat sich deutsche Klischee von den Kartoffelessern hier gerade bestätigt. Mehr Cay wird ausgeschenkt (in diesem Fall aus einer Thermoskanne) und wir werden (pantomimisch, wieder keine gemeinsamen Sprachkenntnisse und kein Internet) besorgt vor möglichen Gefahren gewarnt: der Gletscher, erst kürzlich sind wieder zwei Leute abgestürzt; und natürlich die wilden Tiere (hier wird extra unters Auto geleuchtet und der eindringliche Tipp gegeben: Klick-klick - Auto zweimal abschließen!). Und obwohl wir uns nicht wirklich etwas erzählen können, blitzen doch auch hier kurz die Verwundungen auf, die der Bürgerkrieg in der Seele der Kurden hinterlassen hat. So richtig gerne lassen sie uns nicht einsam in der Wildnis zurück, aber irgendjemand zu Hause in Hakkari wartet mit dem Essen, lassen sie uns wissen. Und tauschen noch schnell Telefonnummern aus, damit wir uns melden können, wenn wir beim nächsten Essen in Hakkari dabei sein wollen. Oder damit sie uns anrufen können, wenn sie auf dem Rückweg in der Dunkelheit liegen bleiben, denke ich mir. Aber hier gibt´s ja kein Internet. Und als die beiden davongefahren sind, fühlt sich die wilde Bergwelt tatsächlich riesengroß und ausgesetzt an. Im Kreis der Berggipfel unwirklich vom Mond beleuchtet, wirkt das Ganze überhaupt nicht mehr wie unsere bekannte Welt, sondern wie eine unbekannte Marslandschaft. Und wir als zwei einsame Astronauten mittendrin!
Am nächsten Morgen ist die Marslandschaft verschwunden: im hellem Sonnenschein (allerdings schaffen es die ersten Strahlen erst gegen achtuhrdreißig über die hohen Gipfel = duschen in eiskalter Luft) ist unsere grandiose Bergwelt wieder zurück, inklusive Blick auf den Cila-Gletscher, aus dem das Bächlein zu unseren Füßen entspringt. Was ein purer Luxus ist, denn das blitzsaubere Wasser ist natürlich zu allem geeignet, wofür wir es verwenden möchten. Nur nicht als Badewanne, denn zum Gletscher sind es nur knapp fünf Kilometer, was bedeutet, das Wasser hat trotz der (zumindest tagsüber) sehr sommerlichen Temperaturen) keine Zeit, sich aufzuwärmen. Zum Füße waschen reicht´s trotzdem, denn: wir sind ja wieder in Anatolien und beim vertrauten anatolischen Staub angekommen, der einfach zu diesem Landstrich dazugehört und der dafür sorgt, dass binnen kürzester Zeit der graue Staub in allen Ritzen an und unter den Fußnägeln kaum noch wegzubekommen ist. Gut, dass der Fußpflegetermin im November schon gebucht ist, die gute Dame wird die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber sei es wie es sei: heute wandern wir auf unseren staubigen Füßen (mit Wanderschuhen natürlich) zum Cila-Gletscher, um ihn nicht nur von Weitem, sondern aus nächster Nähe bestaunen zu können. Am gegenüberliegenden Bachufer richten sich gerade drei junge Männer zum obligatorischen kurdischen Barbecue ein mit den ebenfalls obligatorischen Plastiktüten und mit Holz befeuerten Teekochern. Ich wundere mich noch, dass trotz Wochenende nicht mehr los ist an diesem herrlichen Platz. Unser Weg führt uns durch ein beeindruckendes Tal mit himmelhohen Felswänden und den typischen Schotter- und Grashängen, auf denen sich vor Urzeiten einmal der Gletscher befunden haben soll. Ein riesiges Trumm muss es gewesen sein. Und obwohl bis heute eine mächtige Eisfläche übrig geblieben ist, ist es doch nur noch ein Bruchteil dessen, was es einst einmal war. Immerhin, denke ich als wir den Gletschersee erreichen, stirbt er herzzerreißend schön! Denn im See treiben in schneeweißen, eisigen Inseln die Abbruchstücke in bizarren Formen. Die größte Insel gleicht einem Puzzleteil, das exakt ans im Wasser liegenden Ende des Gletschers passt. Überall in den nahezu senkrechten Wänden verteilt, weitere Eisflächen mit den typischen, eisblau leuchtenden Spalten. Ein sich weit auffächernder Wasserfall entspringt einem davon weit oben in der Wand und ergießt sich in die darunter liegende, weiße Fläche. Wieder eine fast unwirkliche Welt, wenn auch eine, die in zehn Jahren möglicherweise nicht mehr vorhanden sein wird. Der Klimawandel macht auch vor dem südöstlichsten Zipfel der Türkei nicht Halt! Man mag sich kaum von diesem Ort trennen, doch hier liegt schon am frühen Nachmittag alles im Schatten der mächtigen Felswände. Und so machen wir uns auf den Rückweg, entdecken am Weg Hinterlassenschaften und aufgewühlte Stellen eines Bären, sind aber nicht besonders besorgt. In dieser Wildnis kann es sich keinesfalls um ein angefüttertes Exemplar handeln.
Kurz vor unserem Schlafplatz kommen uns die drei Barbecue-Jungs entgegen. Ob sie heute noch zum Gletscher wollen? fragen wir. Immerhin: einer arbeitet in der Tourismus-Branche und spricht gut Englisch, einer ist ein Kollege von mir (teacher for small children) und kann sich ebenfalls gut ausdrücken, der dritte (was arbeitet er eigentlich?) möchte zumindest nicht sprechen, scheint aber doch mehr zu verstehen, als er zugibt. Und was ist nun mit dem Gletscher? Och, eigentlich wollten sie schon dorthin aber …. ob wir nicht Tee mit ihnen trinken möchten? wird ganz schnell gefragt. Wir sind die ganze Nacht noch hier, sage ich, wir können auch Tee trinken, wenn sie vom Gletscher zurück sind. Die Motivation ist ziemlich mittel, einer meint, er wäre ohnehin zu müde und schon sind wir zu fünft auf dem Rückweg. Der Teekocher wird angefeuert: der kurdische Tee käme dafür extra aus dem Irak und wäre ganz anders als der türkische, wird betont. Und überhaupt: auch hier wurde sofort klargestellt, dass sie Kurden sind, die Identität ist wichtig! Und die Beziehung zu Irak und Iran deutlich entspannter wie zu den Türken. Wie schon gestern erlebt: die „Kurdenfrage“ ist nach wie vor nicht geklärt. Und die Auffassung, wo denn eigentlich „Kurdistan“ liegen sollte ist klar: wie ein langgezogenes Oval könnte es sich über Südostanatolien, Armenien, Iran und Irak erstrecken. Doch das ist sicher ein Wunschtraum. Karl May allerdings, damals im 19. Jahrhundert, erzählte zumindest literarisch vom „Wilden Kurdistan“. Allerdings kamen seine Bewohner als Berg bewohnende Wilde, bis an die Zähne bewaffnet, nicht besonders gut weg. Gut, dass wir die „echten“, immer gastfreundlichen Kurden kennenlernen dürfen. Wir bekommen Bilder der farbenfrohen kurdischen Trachten und Hochzeiten gezeigt, der Erzieher liebt auch den Hochzeitstanz, der Touristik-Manager dagegen nicht so sehr. Alle drei kommen aus Hakkari oder den umliegenden Dörfchen und unbedingt müssen wir im Frühling wiederkommen, wenn alles blüht! Und ob Jürgen ein Gewehr besitzt? wird gefragt. Nach kurzer Verwirrung wird der Hintergrund der Frage klar: IT-Security wurde missverstanden. Jürgen ist nicht der Mann mit der Pistole am Eingang des Rechenzentrums. „Aah,Hacker!“ ist allen sofort klar. „But the good one!“ Der „gute Hacker“ erkundigt sich nach der Art der Freizeitgestaltung, die wir in Anatolien überall beobachten: die bekannten Picknicks und Barbecues (ja, im Sommer ist hier alles voll, im Herbst möchte niemand mehr herkommen). Nein, es wäre nicht üblich, dass Männer und Frauen/ Jungs und Mädels zusammen grillen und Tee kochen: das findet entweder in der reinen Männerrunde oder eben im Familienkreis statt. „It´s another culture“, sagt Mehmet, der Tourismus- Manager achselzuckend. Arafat, der Pre-School-Teacher“ hält mir unterdessen ein Foto seiner Vorschulkinder unter die Nase. Alle sind mit ihren Arbeitsblättern eifrig bei der Sache. Was ich ziemlich witzig finde: die Aufgabe ist, in der Zeichnung eines geöffneten Mundes die darin vorhandenen Zähne zu zählen und mit den entsprechenden Zahlen zu verbinden. Wer einmal die reale dentale Situation in der Türkei erlebt hat (und den verursachenden Zuckerkonsum), der weiß, dass es sich um eine aus dem Leben gegriffene Aufgabenstellung handelt. Immerhin: gleich darauf bietet Arafat zwei verschiedene Zuckerarten zum Cay an: normalen und Traubenzucker. Der Traubenzucker wäre der „gesunde“, will er uns weismachen. Grinst dabei aber verschmitzt: so richtig glaubt er es selbst nicht. Was wir noch lernen: der Tourismus hält seit etwa fünf Jahren auch in dieser Gegend Einzug, nachdem es bis vor zwanzig Jahren ein sehr kritisches und gefährliches Gebiet war (jeder erinnert sich bestimmt an die PKK-Scharmützel in den Bergen zum Irak: das war hier) ; in dieses Gebiet am Cilo-Gletscher zieht es im Sommer viele Bergsteiger, um die ausgesetzten Gipfel zu erklettern; die kurdische Sprache hat überhaupt nichts mit der türkischen zu tun und gleicht eher russisch; junge Leute leben bis zur Hochzeit zu Hause mit Eltern und Geschwistern. Und das Leben wäre teuer im Vergleich zum Lohn. Ob es auch Dinge gibt, die billig sind? fragt Jürgen. Darauf haben die drei erst einmal keine Antwort. Ganz am Ende fällt Mehmet etwas ein: „Die Meinung der Leute - die kann man billig kaufen!“ sagt er und meint damit Korruption.
Inzwischen ist es bitterkalt geworden – die Sonne verschwindet um kurz nach sechzehn Uhr hinter den Gipfeln und lässt eisige Temperaturen zurück. Und so verabschieden wir uns von unseren neuen Freunden, natürlich nicht, ohne dass wir ein paar Dinge geschenkt bekommen: Gurken, Tomaten und Salat, die vom Picknick übrig sind. Und am liebsten gleich noch den ganzen Kilobeutel geröstete Sonnenblumenkerne, aus dem wir schon die ganze Zeit knabbern. Aber den nehme ich nicht an, sondern fülle uns nur zwei Pappbecher mit den knusprigen Samen. Mit einem Hupkonzert verschwinden die drei in ihrem weißen Pickup und lassen uns alleine mit den „gefährlichen wilden Tieren“ zurück. Aber wir haben ja den Profi-Tipp auf Lager: klick-klick – zweimal abschließen!
Kaum können wir uns morgens von unserem neuen Lieblingsplatz trennen, die Fahrt Richtung Westen, zuerst an der iranischen, dann an der irakischen Grenze entlang entschädigt aber für Vieles: über 150 Kilometer geht es durch die sagenhafte, wilde Zap-Schlucht, die meiste Zeit am gleichnamigen Zap-Fluss entlang. Breit und türkisgrün, sogar paddeltechnisch interessant, aber die Grenzposten überall wären vermutlich nicht begeistert, zwei bunte Boote in den Fluten zu entdecken. Und obwohl ausnahmslos alle immer super höflich und freundlich sind: wir probieren nicht aus, was passiert, wenn Sperenzchen ausprobiert werden. Übrigens ist die Dichte an Kontrollen (ich glaube, wir werden auf unserer Strecke fünfmal kontrolliert) nicht nur mit der Nähe zu den Nachbarländern Iran und Irak zu erklären. Mehr Konfliktpotenzial bietet vermutlich die, wie erwähnt, nicht gelöste Kurdenfrage.
Obwohl heute hauptsächlich Kilometerfressen auf dem Plan steht: die Fahrt ist mehr als interessant. Nicht nur die Blicke über die Grenzen hinweg (bei einer kleinen Pause kann ich – zumindest laut Google – die Grenze zum Irak tatsächlich zu Fuß überqueren, aber hier ist nur Wildnis und vermutlich ist die offizielle Grenze irgendwo auf dem Berg) und in die Schluchten und Berglandschaften – auch die vielen Dörfchen, fast nicht mehr türkisch, sondern tatsächlich an Bilder aus Iran und Irak erinnernd, die Menschen oft in traditionellen, kurdischen Trachten. Wir durchqueren andere Welten! Und überall helle Begeisterung und frohes Winken, wenn das seltsame Auto mit den bunten Booten die Gassen passiert. Hoch über dem Ort Sinoba und seinen von der Abendsonne rot angestrahlten Felswänden schlagen wir unser Lager auf. Im Tal die Lichter der Stadt und wir fühlen uns der Zivilisation näher als die letzten Tage im grandiosen Hakkari. Ob´s hier wohl auch Bären und Wölfe gibt? Vorsichtshalber – klick-klick- schließen wir halt wieder zweimal ab.
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